Großer-Tiger und Christian
»macht derweil das
Tor zu.«
»Wir bitten, noch eine Zeitlang damit zu warten«, sagte Großer-Tiger.
»Es ist gegen die Vorschrift«, bemerkte ein Soldat, und nahm den Stadtschlüssel vom Nagel.
»Die Sonne ist untergegangen«, sagte ein anderer, »da schließen wir zu.«
»Sie ist noch nicht jenseits der Meere«, behauptete Christian, »sie hat sich hinter einer Wolkenbank versteckt.«
»Hat das auch seine Richtigkeit?«, fragten die Soldaten.
»Mein Freund Kompass-Berg«, setzte ihnen Großer-Tiger auseinander, spricht nur über das, was er genau weiß. Außerdem bittet
der befehlende Herr Glück, noch zwei Augenblicke zu warten. Er ist derjenige Herr Glück, von dem in allen Hütten gesprochen
wird, weil er das Automobil fährt, in dem der große General Wu sitzt.«
»Ist der General angekommen?«, fragten die Soldaten erschrocken.
»Nein«, sagte Christian, »der General ist dort, wo niemand weiß, dass er ist.«
»Aber Herr Glück ist hier«, rief Großer-Tiger schnell, »und das ist fast dasselbe.«
»So wollen wir noch zwei Weilchen warten«, sagten die Soldaten. »Fährt dieser befehlende Herr Glück weiter?«
»Ja, er fährt die ganze Nacht weiter, ohne anzuhalten.«
»Das ist erstaunlich«, sagten die Soldaten, denen man anmerkte, dass sie nichts dagegen hatten. »Sagt eurem Herrn Glück, er
möge unsere Unkenntnis entschuldigen; wir haben erst vor drei Wochen die Armbinden gewechselt.«
»Die Herren waren früher bei der Armee des Generals Tschang-Tzo-Lin«, erklärte der alte Mann, »aber sie mussten die Stadt
übergeben, da war kein Ausweg.«
»Wo kein Ausweg ist, gibt es keine Hilfe«, bestätigte Großer-Tiger höflich.
»Kennt ihr vielleicht Kleiner-Schneevogel?«, fragte Christian.
»Freilich!«, rief der Alte; »lebt er noch, der gute Junge?«
»Er lebt«, sagte Großer-Tiger, »und er bittet um Nachricht, ob seine Eltern aus der Welt gegangen sind, oder wo sie weilen.«
»Kleiner-Schneevogel braucht kein Verehrungskleid anzuziehen. Er kann seine Trauer vermindern. Kommt einmal mit.«
Der Alte ging voran, und Christian und Großer-Tiger folgten ihm durch das Tor ins Freie.
Die Landschaft vor dem Nordtor war die gleiche wie vor dem Südtor. Man sah auch hier die unendliche Ebene, auf die sichdie Schatten der Nacht senkten, und man sah die Straße darin als einen hellen Strich nach Norden ziehen. Rechts und links
gab es in Rufweite einige Mauerreste, ausgebrannte Hütten und wirres Gestänge von verkohlten Dachsparren. Die Mondsichel hing
wie ein Feldzeichen über dem traurigen stillen Bild. »He, Vater Ma!«, rief der Alte, »hörst du mich?«
Aus den Ruinen tauchte der Schatten eines Mannes auf und antwortete:
»Ich höre deine Stimme. Was gibt es?«
»Komm unter das Tor. Hier sind zwei würdige Herren mit Botschaft eingetroffen.«
Es dauerte kurze Zeit, und dann kam aus der zunehmenden Dunkelheit ein Mann bedächtigen Schrittes gegangen.
»Du rufst spät«, sagte er, als er vor ihnen stand und den Fellkittel um die frierenden Schultern enger zog.
»Nicht zu spät für eine gute Nachricht. Dein Sohn Kleiner-Schneevogel lebt!«
»Und die Kleinen?«, fragte der Mann ängstlich mit hängenden Armen.
»Alle drei sind in Kalgan«, berichtete Großer-Tiger; »sie entbieten den Eltern kindlichen Gehorsam und Gruß. Kleiner-Schneevogel
sendet tausend Worte liebevoller Ehrfurcht und bittet den befehlenden Herrn Vater um ein Zeichen.«
Nach dieser einleitenden Ansprache schwieg Großer-Tiger still, und Vater Ma schwieg auch, denn das Glück machte ihn stumm.
Der Torwächter, der einen Freudenausbruch erwartet hatte, blickte verständnislos von einem zum andern, er hustete verlegen,
und dann sagte er: »Na, na …« und: »Aber, aber …« und ähnliche aufmunternde Redensarten.
Darüber fand Vater Ma wieder zu sich. Sein einfaches Gemüt suchte nach Worten, und als er sie nicht fand, warf er sich vor
Großer-Tiger auf die Knie, schlug die Stirne auf das Pflaster und weinte. Großer-Tiger und Christian sprangen herbei und hoben
ihn auf.
»Lasst ihn«, sagte der Torhüter, »er will eben viel danken.«
»Die Herren verschwenden wegen meiner ihr Herz über Billigkeit«, rief Vater Ma unter Tränen.
»Nein, das tun wir nicht«, sagte Christian.
»Wir tragen schwer an Euerm Dank«, sagte Großer-Tiger.
Dann berichteten beide, wie sie Kleiner-Schneevogel gefunden hatten, sie erzählten von Grünmantel und von allem, was in Kalgan
geschehen
Weitere Kostenlose Bücher