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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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und weißt auch nicht mehr, was sich gehört.‹
    Das sagte sie, weil sie während der Abwesenheit von Großvater ein wenig Umschau nach einer passenden Schwiegertochter gehalten
     hatte. Allein Nicht-gibt-es-nicht blieb fest bei dem einmal gefassten Vorsatz, und so heiratete mein Vater ein Torgot-Mädchen,
     als er achtzehn Jahre alt war. Die gute Großmutter hatte viel Kummer mit dem Großvater. Statt dass er die Braut hierher zum
     Weißen-Stein gebracht hätte, nahm er meinen Vater, als die Zeit zur Heirat kam, mit an den Edsin-Gol. Dort gab es, wie Großmutter
     zeitlebens behauptete, eine ziemlich formlose Hochzeit. Das sagte sie, weil sie nicht dabei war, und weil Nicht-gibt-es-nicht
     über ein Jahr am Edsin-Gol blieb.Als er endlich heimkehrte, sagte er: ›Es war eine in jedem Betracht formvollendete Hochzeit, denn sie hat ein ganzes Jahr
     gedauert.‹
    Solche Späße liebte Großmutter nicht, allein sie freute sich, als meine Mutter ihr gleich ein Kind von der Reise mitbrachte.
     Dieses Kind war ich. Ich heiße Bator. Einer der Nachkommen Dschingis-Khans hieß auch so. Geboren bin ich in der Wüste an einem
     Brunnen, der nur schlechtes Salzwasser führt. Die Wasserstelle heißt der Kasten-Brunnen, weil ein Berg in der Nähe ist, den
     man Abder, den Kasten, nennt. Wahrscheinlich sieht er so aus, und allgemein zählt man ihn zu den gefährlichen Bergen. Ich
     bin nie wieder hingekommen, obgleich ich es gerne möchte, denn es ist traurig, wenn man seinen Geburtsort nicht kennt, auch
     wenn er gefährlich ist.
    Während all den vielen Jahren seit meiner Geburt stand unsere Jurte tausend Schritte von hier entfernt am Fuße des Hügels
     Weißer-Stein. Vor einer Stunde haben wir sie abgebrochen.
    Einen Steinwurf von unserer Jurte entfernt ist der Brunnen, der auch Weißer-Stein heißt. Er ist sehr tief. Das Wasser darin
     ist gut, und es geht nie aus. Damit es immer schön klar bleibe, machte Großvater Nicht-gibt-es-nicht eine ausgezeichnete Sache.
     Er holte von weither dicke und dünne Weidenzweige, und aus diesen Zweigen flocht er ein dichtes Geflecht rings um den Brunnenschacht
     bis ganz hinunter, wo das Wasser anfängt. Niemals fällt seither ein Brocken Erde in den Brunnen, höchstens rieselt Staub hinein;
     aber das macht nichts. Als Nicht-gibtes-nicht fertig war, rief er meinen Vater und redete sehr ernst mit ihm, und er verlangte,
     dass er die Worte seinem Sohn, das bin ich, getreulich weitergeben müsse; und dieser, das bin ich auch, solle sie für fernere
     Söhne bewahren bis an das Ende aller Zeit.
    So habe ich von meinem Vater erfahren, was mein Großvater sprach: Er sagte: ›Mein Sohn! Betrachte dieses Brunnenloch, das
     ich mit tausendmal tausend Zweigen fest umkleidet habe. Es fällt keine Erde mehr hinein, und kein Stein kann sich lösen. Es
     war eine schreckliche Arbeit. Deine Mutter ist glücklich und stolz, weil wir jetzt einen Brunnen haben, wie ihn weitherumniemand besitzt. Aber deine Mutter ist eine unverständige Frau. Ich bin so viele Male in den Brunnen gestiegen und an dem
     Seil wieder herausgekrabbelt, dass ich deutlich spüre, wie ich dabei mein Gesicht verloren habe. Es war eine Arbeit, die eines
     freien Mongolen unwürdig ist. Hätte ich zu Anbeginn gewusst, was ich jetzt weiß, ich hätte nie damit begonnen. Ich sagte schon,
     dass deine Mutter eine unverständige Frau ist, und es bleibt dabei. Aber sie hatte recht, als sie einmal sagte, dass die Torgot-Mongolen
     von guter Sitte nichts wissen. Bei ihnen am Edsin-Gol sah ich solche Brunnen, und da wollte ich auch einen haben. Also ließ
     ich mich hinreißen, niedrige Arbeit zu verrichten, die obendrein beinah kein Ende nahm. Die Torgoten sind gute Leute, aber
     ich habe eingesehen, dass sie kein Ehrgefühl besitzen. Sie müssen es verloren haben, als sie so lange an der Wolga lebten.
     Ich verlasse euch jetzt für einige Jahre, denn wie könnte ich einen freien Tschachar-Mongolen ansehen, ohne vor Scham zu erröten!
     Wenn ich wiederkomme, ist hoffentlich Gras über die Sache gewachsen. Du mein Sohn, vergiss nicht, was dein Vater zu dir spricht.
     Hüte die Pferde und erschlage den Wolf, wo du ihn triffst, züchte Kamele und reite meinetwegen bis dahin, wo die Welt aufhört.
     Aber beschmutze deine Hände nicht mit unwürdiger Arbeit!‹
    Das sind die Worte meines Großvaters, den man Nicht-gibt-es-Nicht nannte. Er ritt fort, und er starb unterwegs im Schnell-Schwarzwasser-Tal,
     und weil ich noch klein war, kann ich

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