Großer-Tiger und Christian
Christian stieß Großer-Tiger in die Rippen, und dann sagten beide wie auf Verabredung:
»Pu-tschi-tao! Wir verstehen dich nicht.«
»Ihr welch ein Chinese sein etwa?«, fragte die Stimme.
»Wir sind aus Peking«, antwortete Christian.
»Das gut. Ich vorhin sagen, nirgends Befürchtung wirkliche vorhanden.«
»Komm herein«, sagte Großer-Tiger entschlossen.
Mit einem Satz schwang sich die bis dahin verborgene Gestalt fast lautlos in den Wagen. Großer-Tiger und Christian staunten.
»Bist du ein Akrobat?«, fragte Christian.
»Nein, ich Mongole sein Stamm Tschachar. Geringer Name Bator. Euer Weg leicht und gut, wünschen ich.«
»Du bist Bator?«, rief Christian. »Dann ist alles gut. Lo-Tjang sendet dir Grüße und Nachricht. Hier ist Großer-Tiger, und
ich bin Kompass-Berg. Setze dich.«
Sie verneigten sich voreinander, und Bator murmelte dabei Worte der Begrüßung, die Großer-Tiger und Christian nicht verstanden.
Großer-Tiger kam dann gleich auf das Wichtigste zu sprechen; er sagte: »Grünmantel ist angekommen.«
»Ich schlechten Menschen vorhin sehen und großen Schreck erfahren«, sagte Bator.
»Lo-Tjang meint, es pressiert«, fuhr Großer-Tiger fort, »es sei wegen der Kamele, und man müsse vorsichtig sein, weil es schneit.«
»Verstehen«, sagte Bator, »alles verstehen Gesagtes. Vielmals entschuldigen wegen Eile. Ich bald wiederkommen.«
Er stand auf, und Christian sah, dass Bator barfuß war, obgleich seine Füße unter dem langen Pelzmantel fast verschwanden.
»Hast du keine Schuhe?«
»Hamma-guä«, sagte Bator, »meine Stiefel stehen unter Wagen. Kein Schnee eintreten dort etwa. Ich bald wieder hier sein.«
Mit dem Schwung des geübten Reiters, der auf sein Pferd springt, setzte er über die Wagenbrüstung. Der Mantel flatterte wie
eine Fahne, und von seinem Aufsprung war fast nichts zu hören.
Christian und Großer-Tiger schauten ihm nach, wie er über den Hof huschte. Jedes Ding benützte er geschickt als Deckung, und
bald war er in der südlichen Ecke des Hofes angelangt, wo es dunkel war, und wo die Kamele lagen, und wo niemand sehen konnte,
was vor sich ging. Eine Weile war alles ruhig. Dann ertönte der unwillige Schrei eines Kamels, das man zum Aufstehen zwingt,
wenn es lieber liegen bleiben möchte. Gleich darauf erschien der Schatten eines Menschen im wehenden Mantel auf der Hofmauer.
Er hantierte mit einem Seil, doch das dauerte nur einige Augenblicke. Dann verschwand Bator, und alles war wie vorher. Die
Kamele kauten, was sie am Tag gefressen hatten, der Wind pfiff über das Dach der Herberge »Fröhliches-Gedeihen«, und der Schnee
wirbelte in kleinen Flocken durch die Nacht.
»Der kann turnen«, sagte Christian anerkennend.
»Was kann er?«, fragte Großer-Tiger.
»Ich meine, dass Bator leicht über Mauern springen kann.«
»Er kann nicht über Mauern springen, denn er ist kein Vogel Huhn. Hast du gehört, wie das Kamel schrie?«
»Ich habe es gehört.«
»Es schrie, weil es ärgerlich war, und es war ärgerlich, weil es aufstehen musste.«
»Du meinst, dass Bator es aufgeschreckt hat?«
»Ich weiß, wie man so was macht«, erklärte Großer-Tiger; »und was ich nicht weiß, denke ich mir dazu.«
»Mein Vater nennt das eine Diagnose«, sagte Christian; »manchmal ist es so, und manchmal ist es nicht so.«
»Gut«, sagte Großer-Tiger, »ich sage Diagnose, dass die Kamele sehr nahe an der Mauer liegen. Dort gibt es eine Leine, die
am Boden festgepflockt ist. An diese Leine binden die Männer die Kamele mit dem Nasenstrick kurz an, damit sie liegen bleiben
und kauen, was sie am Tag gefressen haben, und damit sie schlafen, wenn sie müde sind. Manchmal aber gibt es Leute, die nachts
geschwind fortwollen, und dann ist das Tor geschlossen. Weil der Wirt auch schlafen muss, weckt man ihn nicht extra auf, sondern
man geht zu dem Kamel, das ganz an der Mauer liegt. Man bindet den Nasenstrick locker, und das Kamel schaut,weil es sich wundert. Dann setzt man sich auf das Kamel, und trommelt ihm mit den Füßen ein bisschen auf den Bauch. Da weiß
das Kamel, es gibt keine Hilfe, und es muss aufstehen; aber weil es Nacht ist, schreit es. Vielleicht kommt dann einer und
will sehen, was los ist; aber manchmal weht ein Wind, und es schneit, und dann kommt keiner. Das ist natürlich viel besser,
als wenn einer es merkt und ein Geschrei macht, als ob die Sterne vom Himmel fielen, und dabei will ein anderer nur leise
fort, damit niemand
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