Großer-Tiger und Christian
mich kaum an ihn erinnern.
Als man uns berichtete, dass er tot sei, dauerte es nicht mehr lange, bis auch Großmutter starb. ›Was soll ich noch bei euch?‹
sagte sie; ›ich habe alle meine Tage auf Nicht-gibt-es-nicht gewartet. Das brauche ich jetzt nicht mehr tun.‹
Um diese Zeit fing unser Unglück an.
Es kam nämlich ein Chinese aus Kalgan. Niemand kannte ihn, und wo sein Heimatland war, sagte er nicht. Er gab uns viele schöne
Worte, und weil wir keinen Fürsten mehr hatten, der es verbieten konnte, schlug er sein Zelt auf, wo jetzt das Gasthaus ›Zum
fröhlichen Gedeihen‹ steht.
Er kaufte Felle und Wolle, und er gab uns Mehl, Salz und Teedafür. Weil er einen grünen Mantel trug, nannte man ihn Grünmantel, und so heißt er heute noch. Er blieb nicht lange am Weißen-Stein.
Niemand wollte Handel mit ihm treiben, weil er die Menschen betrog. Das Mehl, das er verkaufte, war schlecht, und die Waage,
mit der er wog, stimmte nicht.
Eines Tages brachte er einen andern Chinesen mit, der ihm viel Geld gegeben hatte für das Land, von dem Grünmantel behauptete,
es gehöre ihm. Grünmantel verschwand, und bald hörte man, dass er unter die Rotbärte gegangen sei. Der andere Mann fing an,
unser Grasland umzupflügen; er säte Hirse, und er baute eine Hütte für sich und die Seinen. Mein Vater sprach davon, dass
es gut wäre, man schlüge ihn tot. Aber wir unterstehen dem strengen Amban in Kalgan, und so blieb der Fremde am Leben. Er
heißt Hagelkorn. Ob er wirklich so heißt, weiß ich nicht. Wir nannten ihn so, weil er oft auf dem Acker stand und ängstlich
am Himmel etwas suchte, was es bei uns nicht gibt. Großvater Nicht-gibt-es-nicht, der ein weitgereister Mann war, hatte uns
zwar erzählt, so was gäbe es, und er habe diese Sache erlebt, aber sie sei selten und kostbar und dabei unangenehm.
Hagelkorn ist ein friedlicher Mensch. Trotzdem nahm er immer mehr von unserem Grasland, das er sein Eigen nannte, weil er
Grünmantel Geld dafür gegeben hatte. Nach ihm kamen noch drei Familien aus Schensi, und sie wohnen hinter dem Hügel. Da fanden
unsere Schafe nicht mehr genug Futter, und wenn wir früher zweihundert hatten, besaßen wir nur noch vierzig, als Hagelkorn
ein Gasthaus baute.
Es war an einem Neujahrstag, als er es einweihte; und es kam ein Mensch aus Kalgan, der auf ein schwarzes Schild mit goldener
Schrift etwas malte, was Fröhliches-Gedeihen hieß. Hagelkorn klebte glückbringende rote Papierstreifen ans Tor der Herberge
und sagte, dass er ein guter Nachbar sei. Darum wünsche er, Vater Serrath solle bei der Eröffnung drei Becher wässrigen Weines
mit ihm trinken. ›Das kann geschehen‹, sagte mein Vater.
Am Neujahrstag ist es bei uns üblich, Verwandte und Freunde zu besuchen. Man reitet im Galopp von Zelt zu Zelt, man trinktWein, der aus Stutenmilch gemacht wird, und man ist fröhlich. Wer am weitesten reitet und dazu die wenigste Zeit braucht,
hat ein ›Großes Gesicht‹ für das ganze Jahr. Von seinem Pferd sagt man, es sei ein Enkel von Bosafabo. Bosafabo aber war ein
Hengst des Großen Khans, und schon die kleinen Kinder singen Lieder von ihm.
Mein Vater war einer der ersten Pferdehirten des Stammes Tschachar, und er hatte ein nussbraunes Pferd mit einem weißen Stern
auf der Stirn wie Bosafabo. Die Herde, die mein Vater hütete, zählte dreihundertsechzig Pferde. Am Neujahrstag ritt er bis
zu den Zelten der benachbarten Sunit-Mongolen, und als er zum Weißen-Stein kam, hatte er alle anderen Pferde und alle Reiter
weit hinter sich gelassen. Er trank mit Hagelkorn drei Freundschaftsbecher und machte sich in der Nacht auf den Rückweg zu
seiner Herde, denn er war ein Märin; das ist einer, der auf dreihundertsechzig Pferde Obacht geben muss. Mein Vater ließ sich
auf dem Sattel festbinden, denn er hatte viel trinken müssen; und als er fortritt, sang er von Bosafabo, dem Hengst des Großen
Khans. Es schneite, und es wehte, und das Pferd mit dem weißen Stern auf der Stirne wusste den Weg; und es galoppierte, weil
kein Pferd am Neujahrstag im Schritt gehen darf. Unterwegs stürzte das nussbraune Pferd in eine Lössrawine, die von einer
Schneewehe verdeckt war, und der Gesang meines Vaters endete plötzlich mittendrin. Das Pferd brach ein Bein, und es starb
in der Nacht vor Erschöpfung. Mein Vater brach auch ein Bein. Als man ihn fand, lag er halb erfroren unter dem toten Pferd.
Das Bein blieb steif, und man nannte ihn nicht
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