Großstadt-Dschungel
mich direkt am Platinturm vorbei. Vielleicht ist sein Apartment genauso unaufgeräumt wie meins. Vielleicht will er nicht, dass ich denke, er lebt in einem Saustall. Wie niedlich, dass er nicht merkt, wie egal mir das wäre. „Wir können nicht zu mir“, behauptet er knapp.
„Warum nicht?“ Welcher Typ würde sich schon gegen Sex mit einer Frau entscheiden, nur damit sie seine chaotische Bude nicht sieht?
„Darum.“
Und mit einem Mal habe ich eine Erscheinung. Es kann schon sein, dass meine weibliche Intuition etwas benebelt in eine emotionale Verkehrskontrolle geraten ist, aber inzwischen habe ich sie wieder voll im Griff.
Ich schiebe seinen Arm von meiner Schulter. „Du lebst mit deiner Freundin zusammen.“ Jetzt begreife ich, wie er es sich leisten kann, in so einem Palast zu wohnen. Sie unterstützt ihn vermutlich, während er „frei“ arbeitet.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine Wohnung suche. Aber das Einkommen von Freien ist nicht so doll.“
„Fahr zur Hölle.“
„Können wir nicht zu dir?“
„Nein. Ich schlafe nicht mit dem Mann einer anderen.“
„Ich wollte nicht mit dir schlafen.“ Er versucht, seinen Arm wieder um mich zu legen.
Wie bitte? Meint er das ernst, er wollte nicht mit mir schlafen? „Was hattest du dann vor? Die ganze Nacht Gedichte zu rezitieren?“
Er sieht mir in die Augen. „Es gibt da eine Menge mehr, das man tun kann, ohne einen anderen gleich zu hintergehen.“
Entschuldigung? „Meinst du … meinst du oralen Sex?“
„Nun ja, so in der Art.“
Was bildet der Knilch sich eigentlich ein? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Andrew Marvell seine stumme Geliebte davon überzeugen wollte, ihre ganze Süße zu nehmen und ihm einen zu blasen.
Wäre ich mit dem Taekwondo schon weiter, würde ich ihm jetzt einen Seitentritt in die Leistengegend versetzen, von dem er sich nie wieder erholte.
„Verpiss dich“, zische ich und gehe weg. Kein besonders origineller Abgang, aber einer mit Wirkung.
Ich rufe Wendy an. „Das glaubst du mir nie und nimmer.“ Ich erzähle ihr die Geschichte des Abends.
„Welche Nummer hat er dir gegeben?“ Ich lese sie ihr vor. „Hört sich nach einem Handy an. Du hättest wissen sollen, dass dir ein Mann nur seine Handynummer gibt, wenn er nicht will, dass du ihn zu Hause anrufst.“ Ich habe keine Ahnung, wie eine Frau aus Connecticut, die in Philadelphia zur Schule ging und in New York lebt, etwas über die Vergabe der Handynummern in Boston weiß, aber ich vertraue Wendy.
„Ich fühle mich benutzt.“
„Bestimmt, aber überleg mal, um wie vieles elender du dich fühlen würdest, wenn er dir nur die Nummer seines Piepsers gegeben hätte.“
Um drei Uhr morgens vernehme ich durch die Zimmerwände ein gedämpftes Raunen. Ich stelle mir Sam und Marc bei wildem Sex vor. Um 3:30 Uhr kommt das Raunen aus dem Wohnzimmer. Himmel. Müssen sie es unbedingt auf der Couch treiben? Was ist, wenn ich Hunger bekomme? Schritte hallen durch die Wohnung. Ich schlafe wieder ein.
Um fünf klingelt das Telefon. Ein Schluchzen hallt durch den Hörer. Wer ist das? Ich glaube, ich habe das nicht laut gesagt. „Hallo?“
Schluchzen.
Wo ist denn das Display meines Telefons?
„Ich bin’s“, sagt eine Stimme. „Bist du wach?“
„Ja.“ Warum sage ich das immer? Ich bin nicht
wach
; ich bin ausgesprochen verschlafen. „Was ist los?“
„Ich habe schon das ganze Schokoladeneis gegessen, und jetzt bin ich bei den Keksen angekommen.“ Schluchzen.
„Was ist passiert?“
„Er sagt, er braucht mehr Raum. Er will nicht mit mir zusammenziehen. Er liebt mich nicht.“
„Wer
ist
da?“
„Was?“
Oh, Sam. Ich habe nie zuvor mit ihr telefoniert. Ihre Stimmt klingt viel jünger, als wenn sie einem gegenüber steht.
„In der ‚City Girls‘ steht, dass, wenn Männer nicht wissen, ob sie einfach abhauen oder neu durchstarten wollen, sagen, sie brauchen mehr Raum.“
„Wo bist du?“
„Im Wohnzimmer. Ich rufe vom Handy aus an.“
„Ich bin gleich da.“
Zuerst aber ein Zwischenstopp in der Küche. Hat Sam was von Schokoladeneis gesagt? Ja. Alles weg. Vielleicht ein paar Käsecracker. Um das Gleichgewicht zwischen süß und salzig zu halten. Besser ich nehme gleich die ganze Tüte. Es könnte spät werden.
9. KAPITEL
A ber ich will Prinzessin sein!
Das erste Morgenlicht bricht sich durch die Schlitze der Rollläden und fällt auf einzelne in der Luft tanzende Staubkörnchen. Ich liege in Brezelstellung auf dem
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