Großstadt-Dschungel

verliebt sich“ zu bearbeiten, als die Nachricht einer neuen Mail auf meinem Bildschirm blinkt.
    Noch eine Kommasitzung ertrage ich nicht.
    Aber was ist das denn?
    Jackie
,
    anbei ein Foto von meinem Bruder Tim. Wenn du Interesse hast, lass es mich wissen, und ich geb dir seine
    Nummer
.
    Julie
    Huch. Was für eine Art von schrecklich oberflächlicher Person denkt sie eigentlich bin ich? Glaubt sie ernsthaft, ich gehe nur mit ihrem Bruder aus, wenn er attraktiv genug ist? Was ist mit der Persönlichkeit? Intelligenz? Sinn für Humor? Geld?
    Ich öffne das Attachment.
    Er ist
süß
.
    Und
groß, jedenfalls überragt er Julie auf dem Bild um gut einen Kopf. Mit dem hellblauen Hintergrund tippe ich auf ein Foto vom Fotografen. Ein Geschenk zum zwanzigsten Hochzeitstag ihrer Eltern? So lange ich denken kann, habe ich mir immer ein Foto vom Fotografen gewünscht. Aber mein Dad hatte diese Fantasie, selbst ein Fotograf zu sein, und als ich noch klein war, trug er immer eine Kamera mit riesigem Objektiv um den Hals, bereit für jeden Schnappschuss. Er sah aus wie ein Tourist in Disneyland. „Sieh doch nur, Janie!“ rief er. „Sie lacht!“ Oder: „Sieh doch nur, Janie! Sie hat einen neuen Zahn!“ Ich bin nur froh, dass meine Eltern sich getrennt haben, bevor ich den ersten BH bekam.
    Das Schlimme war nicht unbedingt, dass er sich so peinlich aufführte, sondern dass den Leuten auf den Bildern entweder der Kopf oder die Füße abgeschnitten waren. Sehr merkwürdig. So kam es, dass in meinen ersten Jahren auf diesem Erdenball kein vernünftiges Foto von mir entstanden ist. Mit dreizehn aber hatte ich eine Idee. Ich habe Janie davon überzeugt, zu ihrem Geburtstag Fotos bei Glitzy Image machen zu lassen. Das ist so ein super professionelles Studio, wo sie einen schminken und die Haare machen und man sich vom Pelzmantel bis zum schimmernden Bustier alles an Klamotten aussuchen kann. Ich habe ihr gesagt, dass ich für die Aufnahme zahle und sie nur die Abzüge selbst tragen müsse. Als wir in dem Studio ankamen, wollte ich natürlich auch Fotos von mir machen lassen, logisch, und ich hatte hinterher eine Rechnung von fünfundzwanzig Dollar zu zahlen. Das heißt, fünfundzwanzig Dollar für mich und vierhundertfünfzig Dollar für die Abzüge. Aber die Bilder waren erstklassig. Vor allem meine.
    Es war die Sache
so was
von wert. Für mich jedenfalls.
    Dieser Typ ist nicht bloß süß, der ist echt scharf. Er hat breite Schultern und hellbraune Haare, die aussehen, als wollten sie ihm jeden Moment in seine großen braunen, funkelnden Augen fallen. Komm her, Bello, komm zu Frauchen.
    Warum hat sie mir nicht gleich gesagt, dass sie einen scharfen Bruder hat? Wie heißt er doch noch? Genau, Dad. Ich meine Timothy. Timmy. Tim.
    Was für ein Hickhack. Wenn ich sage, dass ich Lust hätte, ihn zu treffen, würde sie denken, es sei nur wegen seines Aussehens, sonst hätte ich mich ja vorher schon mal geäußert. Soll ich ihr zurückmailen und damit meine Oberflächlichkeit unter Beweis stellen? Oder soll ich ihr antworten, dass ich noch keine Zeit hatte, mir das Foto anzusehen. Nein, das klingt zu blöd.
    Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass mein Computer keine Attachments öffnen kann, aber dass ich mich freuen würde, wenn sie etwas für uns arrangiert, unbesehen. Wo ich darüber nachdenke: Warum macht sie das alles eigentlich? Hat sie meine Lüge mit dem Freund durchschaut? Oder hält sie mich für eine Schlampe, die mehrere Männer zugleich trifft? O Gott, bitte lass sie nicht denken, dass ich einen Freund habe, aber völlig unfähig bin, eine Beziehung zu führen!
    Ich drücke auf „Beantworten“. Kein Grund, zu lange darüber zu grübeln.
    Liebe Julie
,
    mach es klar!
    Jackie
    Senden.
    Er ruft genau um acht Uhr am selben Abend an. Erstaunlich. Geradezu unheimlich. Er hat meine Nummer heute bekommen
und
heute angerufen. Seht ihr, nicht alle Männer spielen Spielchen. Es gibt auch noch welche, die im Theater nicht singen, die nicht nach Thailand abhauen und ihre Freundin betrügen. Das hoffe ich wenigstens. Sollte Tim eine Freundin haben, eine Reise nach Thailand planen und im Theater singen, schlüge es jedenfalls dreizehn.
    Was, wenn er mich ins Theater einlädt? Wenn er Karten für „Das Apartment“ hat? Muss ich mir das Stück dann noch mal ansehen?
    „Jackie!“ brüllt Sam aus ihrem Zimmer, während ich mir das Ende von Ally McBeal anschaue. „Es ist für dich!“
    „Sag ihm, dass ich später zurückrufe!“ rufe