Grote, P
dessen Tour rekonstruieren.
Die Bergarbeiterstadt Baia Mare gehörte zu den am stärksten verseuchten Städten der Welt. Es gab kaum einen Winkel, von dem aus der mehr als dreihundert Meter hohe Schornstein der Kupferhütte nicht zu sehen war. Das galt auch für das kleine Haus der Familie von Grigore Constantinescuam Stadtrand. Martin hatte gewagt, ein Taxi zu nehmen. Er hoffte oder glaubte nicht, dass man hier von ihm wusste oder den Fahrer nach einem flüchtenden Deutschen ausfragen würde. Der hatte allerdings gezögert, hier rauszufahren, besonders als die Schlaglöcher und Pfützen tiefer wurden. Zwei Kinder rannten in das kleine rote Haus, sicher um ihre Mutter zu holen, andere Knirpse stierten ihn von Weitem an, vorsichtig hinter einen Bretterzaun geduckt, andere aus der halb geöffneten Haustür gegenüber, jederzeit bereit zur Flucht unter Mutters oder Großmutters Röcke. Eine Frau in unbestimmbarem Alter erschien auf den Treppenstufen.
»Grigore Constantinescu?«, fragte Martin und wiederholte den Namen.
»Franţa« ,
sagte die Frau
, »el e în Franţa. Tu eşti amicul?«
Meinte sie, dass er ein Freund von ihm sei?
»
Da, da! Amico, amico
, ja, ich bin ein Freund.« Was hätte Martin sonst sagen sollen.
Die Frau lächelte vorsichtig, sie zögerte, ob sie ihn einlassen sollte, dann kam die einladende Handbewegung, sie winkte Martin heran, wischte sich die Hände an der Schürze ab und führte ihn ins Haus. Er sah sofort, weshalb Grigore Constantinescu nicht aus Frankreich wegwollte. Die Armut sprang Martin an, sie tat ihm weh, er sah vor sich die alte Frau im Autowrack, aber hier herrschte kein Elend. Das Wohnzimmer war sauber, aufgeräumt, es gab Bilder an den Wänden in kaputten Rahmen mit gesplittertem Glas, Zeitungsausschnitte, die billige Imitation einer Ikone über einer Art Hausaltar, sogar eine Kommode mit Geschirr, von allem das Einfachste. Das Beste war das Fernsehgerät. Das Schlechteste waren die Zähne im Mund von Grigores Schwester, die Lücken und Stümpfe machten die sympathische Frau zur Greisin. Grigore hatte nicht ein Zahn gefehlt, daran konnte sich Martin erinnern. Die Kinder trauten sich hervor, eine wirkliche Greisin erschien in der Küchentür, siewar Grigores Mutter, und sie weinte Freudentränen, dass ein Freund ihres Sohnes aus dem fernen Frankreich zu ihnen gekommen war. Dann traf noch ein Mann ein, der einen beherzten Eindruck machte und sofort das Kommando übernahm. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion, von der Martin kein Wort verstand, aber er konnte deutlich machen, dass er Deutscher war. Da sprang der Mann auf, drückte Martin wieder auf seinen Stuhl und verließ das Haus.
Martin wurde flau und kalt. Wussten die Leute von seiner Flucht? Wussten sie, dass er gesucht wurde? Benachrichtigte der Mann, anscheinend Grigores Schwager, die Polizei? Wenn es so gewesen wäre, hätte Martin es gespürt. Diese Leute hier schwiegen, aber sie logen nicht, und solche Leute denunzierten niemanden. Er bekam einen gut duftenden Kräutertee in einer angeschlagenen Tasse vorgesetzt, bestaunte das kaputte Plastikspielzeug der Kinder, die Puppe mit dem ausgerissenen Arm, und bekam von ihnen dafür ein scheues Lächeln geschenkt.
Eine halbe Stunde später war der Mann wieder da und brachte statt eines Sondereinsatzkommandos einen älteren Herrn mit, der Martin herzlich die Hand schüttelte. Er mochte die siebzig überschritten haben.
»Jürgen Werner. Wenn Sie Deutsch sprechen, dann können wir uns über alles unterhalten.« Er wartete Martins Antwort nicht ab. »Sie sind ein Freund von Grigore? Das ist wunderbar, seine Mutter, die Schwester sowie der Schwager, der mich geholt hat, freuen sich schrecklich, dass Sie gekommen sind. Sie sind allen herzlich willkommen. Das hat es noch nie gegeben, dass ein Freund von Grigore erschienen ist. Alle sind sehr glücklich. Wie geht es Grigore? Was macht er? Wie lebt er? Verdient er gut? Wissen Sie, Herr Bongers«, sagte er und beugte sich zu ihm, als solle niemand hören, was er zu sagen hatte, »die gesamte Familie lebt hauptsächlichvon dem, was er schickt, von den Überweisungen, meine ich. Bleibt denn für ihn selbst noch genug übrig? Das würde seine Schwester nie fragen, denn ihr Mann schämt sich, dass er so wenig verdient, und jetzt in der Krise hat er sogar den schlechten Job noch verloren. Aus Bordeaux kriegen sie jeden Monat sechshundert ... Sie verstehen, wie wichtig das für alle ist.« Jürgen Werner sah sich
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