Grote, P
Dafür waren Kirchen, Synagogen und sogar Klöster gesprengt worden, wie die Museumsführerin zu erzählenwusste. Im Inneren zeigten sich die Wahnvorstellungen des gelernten Schusters Ceauşescu in Rekorden. Martin stand auf einem Teppich, der von zwei Kränen durch Fenster hereingehoben worden war, da er wegen des Gewichts von Menschenhänden nicht bewegt werden konnte. An den Decken prangten Kronleuchter aus Kristall, die mehr als zwei Tonnen wogen, und das Ende des sechs Meter hohen Korridors verlor sich im Dunkeln. Hier hätte man ohne Umbauten den olympischen Hundert-Meter-Lauf veranstalten können.
Je weiter die Touristengruppe in die Eingeweide des monströsen Bauwerks vordrang oder ins Gekröse des Diktators, desto bedrohlicher wirkte es. Martin erinnerte sich an den Roman von García Márquez über den ›General in seinem Labyrinth‹, der sich in seinem Palast in seinen Wahnvorstellungen verloren hatte. Unvorstellbar, dass sich Rumänien diesen Bau heute als Parlamentsgebäude leistete. Ceauşescu hatte die Idee dazu von einer Reise nach Nordkorea mitgebracht, wo ähnlich durchgeknallte Potentaten regierten. Martin hatte sich an die junge Frau gewandt, die sie in endlosen Gängen und auf Marmortreppen mit Zahlen vollstopfte.
»Wieso haben die Leute das damals mitgemacht? Eben sagten Sie, dass zwanzigtausend Arbeiter in drei Schichten rund um die Uhr hier gearbeitet haben und in Arbeitslagern kaserniert waren. Bei denen zu Hause fehlten Fensterrahmen und die Kohle zum Heizen. Hat nicht
ein
Maurer die Kelle hingeschmissen?«
Die junge Frau schaute ihn an und verstand seine Frage nicht, auch als Martin sie freundlich wiederholte. Erst dann entgegnete sie mit einem gewissen Unverständnis, dass es angeordnet worden sei und die Männer dafür bezahlt worden seien.
»They did their job.«
Martin empfand es als bemerkenswert, wie unkritisch sie das sah. »Es durfte auch niemand sehen, was an anderer Stelle des Palastes gebaut wurde; die Arbeiter mussten denEingang benutzen, der ihrem Arbeitsplatz am nächsten lag.« Weiteren Fragen wich sie aus, indem sie sich wieder an die gesamte Gruppe wandte.
»Diese zehn Meter breite Marmortreppe wurde vor dem Bau maßstabgerecht aus Holz angefertigt, denn Frau Elena Ceauşescu konnte sich anhand eines kleineren Modells nicht vorstellen, wie die Treppe aussehen würde. Außerdem übte sie an dem Modell, hinauf- und hinunterzuschreiten. Die Stufenlänge und -höhe sind danach beim zweiten Modell ihrer Schuhgröße angepasst worden.«
Der größte Teil der Reisegruppe war davon beeindruckt, nur wenige hatten gelacht. Anschließend war Martin auf der Suche nach der ›Deutschen Zeitung‹ im Pressehaus gewesen. Es war dem Zuckerbäckerstil der Lomonosov-Universität in Moskau nachempfunden. Ob dort allerdings die Kabel genauso von den Wänden hingen, die Toilettenbecken zugeklebt und die Treppenstufen ausgebrochen waren, entzog sich seiner Kenntnis, und der Innenhof war sicher auch nicht von dichtem Buschwerk überwuchert. Der Zustand dieses Bauwerks drückte für Martin den Wert aus, den man der Presse beimaß. Da hatte es François in seinem Kiosk an der Gironde besser.
Das war erst gestern gewesen. Eingekeilt in den Stau sah Martin jetzt wieder hinauf zu den Plattenblocks. Grau von Abgasen, zerfallend, Gefängnisse für die Masse, die den Palast gebaut hatte. Was war der Mensch bereit zu ertragen oder mitzumachen? Ziemlich viel, wenn er an sein eigenes Leben dachte, aber es gab immer einen Punkt, an dem das Fass überfloss, und dazu reichte manchmal ein Tropfen. Dieser Tropfen war es, über den Albert Camus sich in seinen Essays unter dem Titel ›Der Mensch in der Revolte‹ ausgelassen hatte. Charlotte hatte ihn mit Camus’ Schriften bekannt gemacht. Für ihn, als ehemaligen Ingenieur, war Camus neu gewesen, aber hatte nicht er, Martin, auch Charlotte zur Revolte angestiftet? Lebte man nicht ständig inirgendeiner Form von Revolte? Auch bei Charlotte war es ein Tropfen gewesen, vielleicht hatte er die Ereignisse lediglich beschleunigt, an dem Punkt, an dem es ihr gereicht hatte und sie aus dem politischen Geschäft ausgestiegen war. Und dann war sie wieder eingestiegen, allerdings unter anderen Vorzeichen.
Für ihn hatte das konkrete Auswirkungen, er würde diese Reise nicht wie geplant unterbrechen können, um einige Tage mit ihr zu verbringen. Charlotte wollte im Auftrag des Welternährungsprogramms mit einer Delegation in den Tschad fliegen, um mit
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