Grote, P
stellte im Moment die größte Belastung dar. Und noch ein Gedanke brach sich Bahn: Wer war in diesem Spiel eigentlich das, was er zu sein vorgab? Niemand. Was konnte er von den anderen erwarten, wenn nicht einmal er selbst der Winzer aus Saint-Émilion sein durfte? Authentisch war für ihn bislang nur der Kellermeister in der Kooperative gewesen, bei allen anderen hatte eine merkwürdige Spannung geherrscht, als hätte er danach gefragt, wo die Besitzer der Weingüter das Kapital zum Kauf aufgetrieben hatten, woher es gekommen war, wer die Bosse waren und wer welche Anteile besaß. Mochten auch viele bekannte Châteaux in Bordeaux inzwischen Fluggesellschaften und Versicherungskonzernen gehören – die Eigentümer waren längst keine Menschen aus Fleisch und Blut mehr –, so hatte er doch nie das Gefühl, dass Schiebung beim Erwerb mit im Spiel war – lediglich Geld und Macht.
Der Weg stieg an, hier begannen die Weingärten, sie waren nach Süden ausgerichtet, und Martin blieb heftig atmend stehen. Geld und Macht! Aber Schiebung? Er dachte an die Geschichte von Mouton-Rothschild. Die Familie hatte im 19. Jahrhundert Fürstenhäuser finanziert, ihre Feste genauso wie ihre Kriege. Sie hatten Bokassa, der sich zumKaiser der Zentralafrikanischen Republik hatte ausrufen lassen, anlässlich seiner Krönung vierundzwanzigtausend Flaschen Wein verkauft.
»Dich hat ja noch keiner gefragt«, hieß es immer, wenn er das kritisiert hatte. Er hielt es für eine Schutzbehauptung der Käuflichen, die meinten, dass alle anderen genauso dachten oder denken mussten wie sie selbst. Er hingegen glaubte zu wissen, wer seine Weine trank.
Heute dauerte es länger als sonst, bis er beim Laufen nichts mehr dachte und nur noch bemüht war, ohne nasse Füße den Weg zurück zum Hotel zu finden. Er sah den einsamen Klotz von Weitem, die Lichtreklame wirkte wie ein Leuchtfeuer. Nur die Wege, die er in der Dunkelheit nahm, führten ihn nicht zurück, deshalb nahm er sich die ferne Landstraße zum Ziel, die Scheinwerfer der Autos wiesen ihm den Weg. Der letzte Kilometer an der Landstraße entlang war unangenehm.
Schweißnass und dreckig erreichte er das Hotel, die Schuhe waren durchgeweicht, aber er war zufrieden. Durch die gläserne Trennwand zum Restaurant sah er, dass sich Ana Cristina und Simion unter die Feiernden gemischt hatten und ihm zuwinkten. Aber ihm war nicht nach Lärm und Leuten. Als er sich nach der heißen Dusche auf dem Bett ausruhte, klopfte es eindringlich, es konnte nur Ana Cristina sein.
»Kommen Sie, lassen Sie uns tanzen.« Sie strahlte ihn an, erhitzt und ausgelassen. »Machen Sie uns die Freude. Man darf nicht nur arbeiten.«
Sie fasste nach Martins Hand. »Kommen Sie, beeilen Sie sich, lassen Sie uns nicht warten. Auch Mister Simion würde sich freuen.«
Martin wusste, wie es gemeint war. Er sollte sie vor seinen Annäherungsversuchen schützen; wenn Martin in der Nähe war, hielt Simion sich zurück.
Schließlich willigte Martin ein, vertröstete sie aber nochum eine halbe Stunde. Er musste Lucien erreichen, um ihn nach Teubner zu fragen und danach, was der wahre Grund für den überstürzten Aufbruch sein konnte. Wenn die Ereignisse der letzten Nacht etwas mit ihm zu tun hatten, musste er das wissen. Die beiden sind befreundet, sagte sich Martin, Teubner wird ihm gegenüber ehrlich sein.
Er erreichte Lucien in einer schwierigen Stimmung, er schwankte zwischen Hilflosigkeit und Aggressivität. Als Martin erzählte, dass Teubner niedergeschlagen worden war und er seine Kündigung damit in Verbindung brachte, horchte Lucien auf, er wurde wieder zum militanten Aktivisten, wie man in Frankreich sagte.
»Von wo aus rufen Sie an?«
»Über die Hotelleitung.«
»Gut. Sie haben die Männer nicht erkannt? Es waren nicht die von der unerfreulichen Begegnung im Hotel?«
»Nein. Um ehrlich zu sein, Josef hat sich rausgeredet. Ich nehme ihm das mit den familiären Gründen nicht ab. Es steckt was anderes dahinter.«
»Was bringt Sie zu dieser Annahme?«
»Als er ging, hat er gesagt, ich würde das Unglück anziehen – so ungefähr. Er hat es mit dem Tod Ihrer Schwester in Verbindung gebracht . . .«
»Mit dem Mord an ihr!«
Weder stimmte Martin ihm zu, noch wies er das Gesagte von sich. Aber immer, wenn Lucien diesen Ton anschlug, sprach er als Agitator, es klang nach Parole, nach einer Phrase, er tat seiner Glaubwürdigkeit damit keinen Gefallen.
»Er hat als Vorwand für seinen überstürzten Aufbruch
Weitere Kostenlose Bücher