Grote, P
Sie sind doch sonst nicht so aggressiv. Wo sind Sie gewesen?«
»Ich bin der stärkste und mächtigste Mann in Rumänien. Alle meine Tugenden hat mir Gott gegeben.« Ana Cristina war zurück und zitierte Gigi Becali.
Simion sprang auf und schob ihr galant den Stuhl unter.
»Im Volk ist Becali wahnsinnig beliebt, er gibt sich als Wohltäter und bezahlt in Bukarester Neubauvierteln die Stromrechnungen der Armen. Und wenn sein Fußballclub siegt, fährt er im Maybach in die Innenstadt und wirft mit Euroscheinen um sich.«
»Dann sollten wir unbedingt dabei sein«, sagte Simion begeistert. Dieser Becali gefiel ihm offenbar doch.
Um nicht reden zu müssen und um einen Vorwand zu haben, Ana Cristinas feurigen Blicken auszuweichen, aß Martin zu viel, und er trank zu viel.
Als er sich mürrisch vom Tisch verabschiedete, war Ana Cristina die Enttäuschung anzusehen, aber es war ihm egal, er wollte weder die Form wahren noch Konversation betreiben. »Wir fahren gegen zehn Uhr ab. Bitte stellen Sie sich darauf ein. Gute Nacht.«
Er hatte gedacht, dass er ins Bett fallen und sofort einschlafen würde. Aber er kam nicht zur Ruhe. Er setzte sich ans Fenster, sah in die Nacht, hörte auf den Verkehr und schaltete irgendwann den Fernsehapparat ein. Er zappte sich durch sieben englischsprachige U S-Filme , in denen starke Männer Probleme mit Gewalt lösten. Es folgten drei englischsprachige Tierfilmkanäle. Spanische, französische und brasilianische Seifenopern im Originalton zeigten schöne Menschen in luxuriöser Umgebung, und auf drei Kanälenbewegten sich Volkstanzgruppen zum monotonen Rhythmus langweiliger Musik. Teubner hatte erzählt, dass diese Art von Programm unter Ceauşescu ein wichtiger Beitrag des rumänischen Fernsehens zur allseitigen Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit gewesen sei. Das nationale Fernsehen hatte eine Spielshow zu bieten. Damit trug es wesentlich zur Vollendung des durchschnittlichen europäischen Vollidioten bei. Es folgten ekelhafte Boxkämpfe und brüllende Catcher, dann war er wieder bei den Gesichtsakrobaten von CNN angelangt. Das Unterhaltsame an diesem Kanal war, den Ton abzustellen und sich nur die Gesichter dieser Muppet-Info-Show anzusehen.
Der Anruf von Lucien war geradezu eine Erlösung. Aber was er zu sagen hatte, war nicht erbaulich. »Wir haben Sofia heute bestattet, Josef ist gerade rechtzeitig eingetroffen.«
»Haben Sie mehr herausbekommen, was ihren Unfall betrifft?«
»Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen«, fauchte Lucien. »Es war Mord! Der Unfall war inszeniert! Ich habe mich entschieden: Ich gehe, jetzt, wo wir in der EU sind, bis zum Europäischen Gerichtshof. Die Polizei wird die Akten herausrücken müssen.«
»Wenn Ihre Annahme stimmt«, sagte Martin, er ließ sich auch von Lucien nicht einschüchtern, »wenn die Securitate dahintersteckt oder ihre Nachfolger, dann ist der Name Ihres Zeugen längst getilgt. Die Protokolle werden neu geschrieben, neu gestempelt – wenn Sie den Namen des Zeugen nicht finden ... und wenn Sie ihn finden, dann ist auch er in Gefahr, oder?«
Martin wusste aus eigener Anschauung, was es bedeutete, wenn die Polizei oder Geheimdienste die Ermittlungen verschleppten oder andere, »übergeordnete« Interessen wahrgenommen werden mussten.
Eine Weile war es am anderen Ende der Leitung still. »Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun, wo Sie in Sachendemokratischer Verfahren so bewandert sind? Nichts tun? Sie bringen bereits den nächsten Menschen in Gefahr!«
»Wieso ich?«, fragte Martin. Gab es wieder etwas, das er übersehen hatte oder nicht entsprechend würdigte?
»Josef hat mir alles erzählt. Er hat den Absprung gerade noch geschafft . . .«
Martin zögerte mit der Antwort. »Welchen Absprung?«
»Den von Ihnen. Erinnern Sie sich nicht daran, was er Ihnen zum Abschied gesagt hat? Er hat Sie gewarnt. Er hat Ihnen gesagt, Sie würden das Unglück anziehen. Und ich bin mittlerweile auch davon überzeugt.«
»Das müssen Sie mir näher erklären.«
»Muss ich das? Na gut. Sie haben mich nach Ihrer Übersetzerin gefragt, Ana Cristina Giurescu, die Dame mit der internationalen Erfahrung. Ich habe es über die Beteiligten an der NAT O-Tagung herausbekommen. Was glauben Sie, wer sie bezahlt?«
»Na – ich natürlich«, sagte Martin.
»Ja, und Tudor Dragos bezahlt sie auch. Den Herrn werden Sie ja wohl kennen.«
Martin schwieg.
»Ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Dragos will Sie unter Kontrolle behalten, er will
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