Grote, P
das Blatt nicht mehr sehen konnte, die Schubladen hatte eventuell das Zimmermädchen geschlossen. Etwas anderes sagte ihm, dass jemand, der hier nichts zu suchen hatte, im Zimmer gewesen war; es war seine Nase. Sie nahm einen fremden Geruch wahr – und vor seinem inneren Auge erschien Ana Cristina. Mochte sie sein Zimmer noch so vorsichtig durchsucht und die Spuren beseitigt haben, sie hatte eine Duftspur hinterlassen. Sie hätte lüften müssen. Aber wer denkt schon daran? Für ihn hatte der Geruch dieselbe Beweiskraft wie ein genetischer Fingerabdruck. Ein Hauch ihres etwas aufdringlichen Parfums war im Raum geblieben, zusammen mit ihrem Körpergeruch. Das ergab eine unverwechselbare Mischung. Alle unterschätzten seine Nase. Er hingegen unterschätzte die Bosheit anderer.
Martin setzte sich aufs Bett und zog die Schuhe aus. Was hatte sie gesucht – worauf war sie scharf gewesen – auf Geld? War das auch der Grund für ihren Streit mit dem Russen gewesen? Wie hatte sie die Zimmertür mit dem Sicherheitsschloss aufbekommen? Nichts wies auf ein gewaltsames Eindringen hin. Hatte sie es auf seine Unterlagen und Notizenabgesehen? Es war richtig gewesen, allein nach Iaşi zu fahren. Konnte er sie fragen? Sie würde alles abstreiten, und wenn er als Grund für den Verdacht ihren Geruch anführte, machte er sich lächerlich.
Er begann systematisch den Raum zu durchsuchen. Ana Cristina musste sehr umsichtig gehandelt haben, denn bis auf die veränderte Position des Papiers fand sich kein Hinweis, dass jemand hier herumgeschnüffelt hatte. Sie verstand ihr Handwerk – oder war er total auf dem Holzweg? Nein, seine Nase hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Seine SI M-Karten waren verschwunden, sie hatten in der untersten Schublade gelegen. Ihm wurde heiß, denn genau wie die, die er eben in Iaşi gekauft hatte, waren sie nicht registriert.
Die Laufschuhe waren noch nass vom Vortag, aber besser mit nassen Füßen laufen als gar nicht. Er brauchte doppelt so lange wie gewöhnlich, bis der Kopf leer war. Der Boden war trockener und damit härter als gestern, was das Laufen leichter machte. Er hatte nie an einem Marathon teilgenommen, obwohl er die Strecke schaffen würde, aber in den Städten war ihm das Pflaster zu hart, hier hingegen fand er die Leichtigkeit, die er brauchte. Er hatte nie versucht, Charlotte zum Laufen zu bewegen. Wenn sie es gewollt hätte, dann hätte sie mitgemacht, aber es war auch gut, einiges allein zu tun. Allmählich fehlte sie ihm wirklich, länger als vierzehn Tage hatten sie sich nie getrennt, und aus dem anschließenden Wiedersehen machten sie stets ein grandioses Fest.
Heute ließ Ana Cristina ihn warten. Simion war eingetroffen und hatte sich zu ihm gesellt. Er erzählte von der Kirche der drei Hierarchen, deren Portale in gotischen Türrahmen ihn mächtig beeindruckt hatten, er schwärmte von den Fresken der Klosterfestung Cetăt¸uia und vom neugotischen Kulturpalast, an dem Martin blind vorbeigefahren war. Mit keinem Wort erwähnte er Martins Verschwinden, aber Ana Cristinas Weigerung, ihn zu begleiten, hatte ihn betrübt.
»Sie mag mich überhaupt nicht«, jammerte er, und Martin konnte nicht beurteilen, ob es ihm tatsächlich naheging. Mit Simion verhielt es sich wie mit allen Nordamerikanern: Man wusste nie, ob ihre Gefühlsausbrüche echt oder ob sie im Kurs für Verhaltenstraining erlernt worden waren. Auch sein Begleiter zeigte die stereotypen Verhaltensmuster von Hollywoodschauspielern, von den Großen der Vergangenheit wie Brando, Nicholson und Jane Fonda mal abgesehen. Das geistlose »Wow« war nur ein Indiz. Die Art, wie Nordamerikaner den Mund verzogen, bekam man von CNN genauso anschaulich vorgeführt wie das Sprechen aus dem rechten Mundwinkel. Simion beherrschte beides perfekt.
Ana Cristina sah großartig aus, und sie genoss ihren Auftritt beim Gang durch den Speisesaal, den sie zum Laufsteg machte. Martin hatte sie zunächst gar nicht bemerkt, erst die Bewegung der Köpfe an den Tischen in dieselbe Richtung erregte seine Aufmerksamkeit. Simion pfiff leise, und Martin erinnerte sich daran, wie er selbst damals Charlotte angestarrt hatte, als sie am Arm des Präfekten auf Château Grandville den Speisesaal unter den kristallenen Leuchtern betreten hatte. Er war hingerissen gewesen, er hätte nie geglaubt, dass er eines Tages mit dieser Frau zusammenleben würde. Der arme Simion – er hatte nicht die geringste Chance – außer er gewann Ana Cristinas Gunst mit
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