Grrrimm (German Edition)
nichts, der ginge ruckzuck vorbei, die erste Stunde sei ja schon so gut wie rum, und die folgenden dreiundzwanzig würden genauso schnell vergehen – sie würde schon sehen.
»Ein Tag«, rief die Prinzessin, die ihrer Mutter in mancher Beziehung nicht ganz unähnlich war, »ein ganzer Tag in diesen Handschuhen, das halte ich nicht aus! Und außerdem ist es mein Geburtstag.«
Aber Prinz Alphons gab dem Hofmarschall ein Zeichen, und der gab wiederum den Musikern ein Zeichen, und dann fasste der Prinz Florentine an den dicken Handschuhen und begann mit ihr zu tanzen. Alphons war ein sehr guter Tänzer, weil er mit viel Geduld all die schwierigen und komplizierten Tanzfiguren gelernt hatte, die gerade beliebt waren.
»Warum hast du mich nicht früher aufgefordert?«, sagte die Prinzessin erstaunt. »Du bist der Einzige, der nicht mit mir getanzt hat. Ich dachte, das läge daran, dass du es nicht kannst.«
Und gegen Morgen, als der Hofmarschall längst auf eine Bank gesunken war und schnarchte, legte Florentine den Kopf an Alphons’ Schulter und flüsterte: »Du musst die Bänder an meinen Handschuhen aufknüpfen. Wenn du mich auch nur ein bisschen gern hast, musst du mir helfen.«
Der Prinz hatte Florentine nicht bloß ein bisschen gern, er war bis über beide Ohren in sie verliebt. Es kam ihm vor, als wäre das jetzt ein passender Moment, um sie zu küssen. Aber sollte er wirklich? Würde er damit nicht womöglich alles verderben? Er wollte sich lieber gedulden, bis Florentine noch eindeutigere Zeichen ihrer Zuneigung erkennen ließ. Und die Bänder an den Handschuhen, die durfte er ja gar nicht lösen.
Da öffnete die Prinzessin sie selber mit den Zähnen, warf die Handschuhe Alphons an den Kopf und lief davon. Der geduldige Prinz weckte den Hofmarschall und suchte mit ihm die anliegenden Säle und Zimmer ab. Vergeblich. Während der Hofmarschall in den Westflügel lief, sah Alphons sich im Schlosshof um. Das Haupttor stand offen, und der Prinz trat hinaus, um auch außerhalb des Schlosses zu suchen. Prinzessin Florentine war alles zuzutrauen. Die Sonne ging auf, die Vögel zwitscherten, ein milder Wind wehte, und es schien ein schöner Sommertag zu werden. Doch als Alphons gerade aus dem Schloss getreten war, wurde es auf einmal unheimlich still. Die Vögel waren verstummt, selbst der Wind hatte sich gelegt, an den Bäumen regte sich kein Blatt. Alphons folgte mit den Augen einer Taube, die zum Schloss zurückkehrte. Kaum hatte die Taube die Schlossmauer überquert, steckte sie den Kopf unter einen Flügel und stürzte ab. Nun knisterte es im Boden, und um den Prinzen herum bohrten sich Zweige aus der Erde, trieben aus und wollten sich um seine Beine ranken. Er machte, dass er fortkam, und erst nachdem er eine gehörige Strecke gelaufen war, drehte er sich um und sah zu, wie die Dornenhecke rings um das Schloss wuchs und endlich das ganze Gemäuer umzog, bis gar nichts mehr davon zu sehen war, nicht einmal mehr die Fahne auf dem Dach. Der geduldige Prinz seufzte tief und sagte: »Jetzt heißt es hundert Jahre warten.«
Andere Königssöhne waren nicht so geduldig. Das Gerücht von der schönen schlafenden Prinzessin hinter der Dornenhecke breitete sich schnell aus, und immer wieder machten sich Prinzen auf, um zum Schloss vorzudringen. Sie hatten scharfe Schwerter und ihre besten Gärtner bei sich, aber die Dornenranken hielten zusammen als hätten sie Hände, zerkratzten den Königssöhnen die Gesichter und schlangen sich um die Beine ihrer Gärtner. Alle mussten unverrichteter Dinge wieder heimkehren. Und schließlich versuchte es niemand mehr.
Die Jahre vergingen, und aus dem geduldigen Prinzen wurde ein geduldiger Mann in den besten Jahren, der langsam wachsende Bäume in seinem Park pflanzte und alles tat, um möglichst lange zu leben. Jeden Abend ging er früh schlafen, und jeden Morgen stand er spät auf. Er bewegte sich langsam und gemessen, blieb bei ungünstigen Sternenkonstellationen gleich ganz im Bett, und er regte sich grundsätzlich über gar nichts auf – auch nicht darüber, dass sein jüngerer Bruder ihm den Thron wegnahm und ihn immer bloß »Prinz Hastig« oder »Die Entdeckung der Langsamkeit« nannte. Jeden ersten Freitag im Monat versammelte Alphons die besten Ärzte um sich und ließ sich von ihnen eine lebensverlängernde Diät zusammenstellen. Die Ärzte seiner Jugend hatten darauf geschworen, er dürfe nur Dinge essen, die grün seien, und so hatte er nichts als Löwenzahnsalat,
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