Grrrimm (German Edition)
hingen an Fäden von den Wänden herunter, und Spindeln waren an das Treppengeländer gebunden. Seufzend begann der geduldige Prinz den Turm hinaufzusteigen. Er war jetzt hundertfünfzehn Jahre alt und die morschen Stufen knarrten mit seinen morschen Knien um die Wette. Er tat einen Schritt und dann wartete er lange, bevor er den nächsten tun konnte, aber endlich war er doch ganz oben angelangt und sah Prinzessin Florentine auf dem Boden des Turmzimmers liegen. Sie hielt die Augen geschlossen und sah genauso aus wie vor hundert Jahren, nur ein wenig eingestaubt. Alphons war sofort wieder bis über beide Ohren verliebt, hätte sich aber auch gern erst einmal gesetzt. Neben Florentine lag ein Geschenkkarton, der bis zum Rand mit Spindeln gefüllt war.
Ich hätte sie küssen sollen, dachte Alphons. Als sie mich bat, ihr die Handschuhe aufzubinden, hätte ich sie küssen sollen. Jetzt ist es doch viel zu spät. Und ich bin ja auch schon so alt. Andererseits ist sie es ja auch irgendwie. Es dauerte eine Weile, bis er sich auf die Knie herabgelassen hatte. Als er sich gerade über sie beugen wollte, tat die Prinzessin von selber die Augen auf und sagte: »Wer seid Ihr denn? Ihr habt Euch sicherlich verlaufen, Alterchen. Das hier ist der Turm.« Und dann: »Meine Güte, habe ich gut geschlafen! Aber wieso eigentlich auf dem Fußboden?« Ohne den geduldigen Prinzen weiter zu beachten, stand sie auf, klopfte sich den Staub ab und lief aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Nun wachte das ganze Schloss auf, alles reckte und streckte sich, krähte und gähnte, und der Koch besah fassungslos seine Ärmel, von denen die schmutzige Suppe tropfte. Weil man vorerst noch unter sich war, dauerte es eine ganze Weile, bis man begriff, dass der Fluch sich inzwischen erfüllt hatte und hundert Jahre vergangen waren. Eigentlich sah man es ja auch nur an der Dornenhecke und an den Unmengen von Staub, die alles und jeden bedeckten. Nach und nach fanden sich die Schlossbewohner im Festsaal ein. Königin Augusta schickte einen Diener los, um die neuesten Modehefte zu besorgen.
»Hundert Jahre«, sagte König Otto, »stellt euch das bloß vor. König Corso, mit dem ich immer so gern gejagt habe, muss längst tot sein. Alle meine Jagdfreunde sind tot. Und der kapitale Vierzehnender, auf den ich es immer abgesehen hatte, der ist natürlich auch tot. Und Cousine Fanny! Cousine Fanny ist gestorben, ohne dass ich mich mit ihr ausgesöhnt habe. Ist das nicht schrecklich: Eines Tages wacht man auf und muss feststellen, dass man die Leute, an denen einem etwas liegt, nicht so liebgehabt hat, wie man sie hätte haben sollen. Aber dann ist es zu spät.«
»Sei froh, dass ihr euch gestritten habt – das ist der einzige Grund, weswegen du jetzt überhaupt noch lebst«, erwiderte Königin Augusta.
In diesem Augenblick entdeckte man auch den geduldigen Prinzen, der es inzwischen die Treppe wieder heruntergeschafft hatte. Nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, waren alle sehr erleichtert, dass sie die letzten hundert Jahre in einem Zustand unterbrochener Lebenstätigkeit übersprungen hatten, statt wie Prinz Alphons dem unerbittlichen Geschick des Alterns ausgeliefert gewesen zu sein. Dann gab es einen längeren Disput, ob dem geduldigen Prinzen die Erlösung der Prinzessin Florentine zu verdanken sei und ihm deswegen ihre Hand zustände oder ob sie alle auch ohne ihn wieder aufgewacht wären.
»Weder im Fluch noch in seinem Gegenzauber ist je von einem Prinzen die Rede gewesen«, sagte die Königin. Florentine erklärte, dass sie vor hundert Jahren tatsächlich ein wenig in Alphons verliebt gewesen sei, dass die unterschiedlichen Geschwindigkeiten ihrer Alterungsprozesse aber durch diese Liebe nicht überwunden werden könnten.
»Schau dich doch mal an«, sagte sie mit der Unbarmherzigkeit der Jugend, »Pergamenthaut, Putenhals und kaum noch Zähne im Mund. Du bist alt wie ein Stein und riechst komisch.«
»In der Tat, lieber Alphons«, sagte König Otto, »es nötigt mir die allergrößte Bewunderung ab, wie es dir gelungen ist, das Leben über seine natürlichen Grenzen hinweg zu verlängern – aber du musst zugeben, dass die Jahre dich schon ein wenig verwandelt haben.«
»Ein wenig verwandelt?«, schnaubte Königin Augusta. »Sein Gesicht ist ja kaum noch menschenähnlich! Wie ein Kohlrabi mit Frostschäden!«
Florentine bot an, Alphons zwar nicht zu heiraten, ihn stattdessen aber wie einen lieben Großpapa zu ehren und von der
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