Gruber Geht
Krankheit niemals gestattet hätte. Ich weiß gar nicht, woher sie all diese Wörter hat, hatte Philipp gesagt, ich habe derlei nie zuvor von ihr gehört, sie hätte mich aus dem Haus geworfen, wenn ich so auch nur gedacht hätte. Sie muss all diese Ausdrücke ihr Leben lang gesammelt und in irgendeinem Winkel ihrer Seele, nein, eine Seele hatte sie nicht, in irgendeinem inneren Keller angehäuft haben, um sie dann am Ende ihres Lebens schaufelweise hinauszuwerfen. Andere werden milde und weich im Angesicht des Todes, andere macht das Siechtum dankbar und demütig, hatte Philipp gesagt, nur meine Mutter wird, was man nicht für möglich gehalten hätte, noch gemeiner und bösartiger, dabei hatte sie doch die ganze handelsübliche Palette der Bösartigkeit bereits in ihren lebendigeren Zeiten voll ausgeschöpft, eine satte Zwölf auf der zehnteiligen Bösartigkeitsskala, hatte Philipp gejammert. Du kommst mit, hatte er gesagt, ich halte sie keine Stunde mehr alleine aus. Hast du keine Freundin, die du mitnehmen kannst?, hatte Gruber gefragt, und Philipp hatte gesagt, wenn er eine Freundin hätte, würde er sie gewiss nicht seiner Mutter aussetzen, garantiert nicht, denn die Freundin wäre noch nicht zur Tür draußen und er wäre schon wieder Single. Und du hast keine Angst, mich zu verlieren, Schatz?, hatte Gruber gesagt, und Philipp hatte ihm die Backe getätschelt und gegrinst: Nein, Mausi, dich mag sie, ich weiß auch nicht, warum ausgerechnet dich, es gibt dafür keine logische Erklärung.
Aber es stimmte. Philipps Mutter hatte Gruber gern, und Gruber hatte der Frau zumindest einen fundamentalen Respekt entgegengebracht, wenn auch nicht genug, als dass er sich freiwillig in ein nach Tod und Eau de Cologne riechendes Altweiberschlafzimmer begeben hätte, um einem auf Hollywood-Braut geschminkten und mit schwerem Goldschmuck dekorierten Skelett so etwas wie die vorletzte Ehre zu erweisen. Philipp hatte nicht locker gelassen. Hatte ihre Freundschaft ins Spiel geworfen, lamentiert, gejammert, geheult. Gruber war mitgekommen. Es war genauso schrecklich gewesen, wie er befürchtet hatte. Und, na ja, lustig auch, auf eine beklemmende, kranke, grässliche Art. Faszination des Grauens, kennt man ja. Und Gruber hatte ein paar neue Kraftausdrücke gelernt, die er dort in der Villa und trotz Philipps Warnungen partout nicht erwartet hatte. Und Philipp und er hatten danach eine der Krankenschwestern, die endlich ihren Feierabend antreten durfte, auf Drinks eingeladen, und das arme Mausi, wie hieß sie noch gleich, Alva, nein Alma, war überaus dankbar gewesen für die lieben und aufmunternden Worte, die Philipp und Gruber für sie aus dem Sack zauberten, wahrscheinlich die ersten Nettigkeiten, die sie seit vier oder fünf Wochen gehört hatte. Alma hatte darauf positiv reagiert, sehr positiv, sogar mit Zunge. Leider dann doch nicht so positiv, wie es sich Gruber und Philipp erhofft hatten, plötzlich war sie in einem Taxi gesessen und weg, und Gruber und Philipp hatten ihr blöde nachgewinkt und dann halt im Wein & Co noch ein paar Wodkas gekippt, unter gedemütigten Männern, die wieder einmal schlecht investiert hatten.
«Wieso müssen wir eigentlich schon wieder in diesem scheiß Grappello sitzen?», sagt Gruber, «ich hasse das Grappello, du weißt, das ich das Grappello hasse, und mit was, mit Recht, schau dir nur all diese geschissenen Bürgerfressen an.»
«Schrei nicht so.»
Philipp wirft einen peinlich berührten, entschuldigenden Blick Richtung Nebentisch. Ja, Gruber hasst das Grappello. Früher hat er das Grappello gern gehabt, früher war er immer da, aber früher kamen hier auch noch andere Leute her. Leute wie er. Aber jetzt, schau dir die Partie an. Dritte-Klasse-Aristos mit ihren aufmunitionierten Russen-Freundinnen. Fette alte Großbürger in Maßanzügen, dünne alte Weiber in Chanel, Prada und Michael Kors, mit 300 -Euro-Frisuren, Edelblond, mit Strähnchen. Von hinten schauen sie aus wie zwanzig, aber wenn sie sich umdrehen, kriegst du eine Panik-Attacke. Und das Licht! Das Licht ist furchtbar. Trübes, braunes Deckenlicht, jeder sieht scheiße aus in diesem Licht, besonders alte Weiber, wer sich freiwillig in so ein Licht taucht, dem kann auch ein Beauty-Doc nicht mehr helfen. Früher, denkt Gruber, war das Licht hier anders, er weiß nicht mehr wie, aber definitiv nicht so scheiße. Und früher hat es ihm auch noch Freude gemacht, den devoten Kellner zu schikanieren, aber jetzt ist der Kellner Chef
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