Gruber Geht
zuverlässig Lebenswunsch, das ist Gesetz, selbst oder gerade bei denen, die das Dasein davor mehr als eine gottgegebene Prüfung auf dem Weg zu einem besseren, gerechteren Jenseits betrachtet hatten. Plötzlich wird einem klar: Ein besseres Leben gibt es nicht, das hier, das akut gefährdete hier, ist das beste, weil das einzige, das man hat, das einzige, das man gekriegt hat, und das will man nun auf gar keinen Fall hergeben. Es war Gruber nicht anders gegangen. Er hatte im Moment der Diagnose nur eins gewollt. Unbedingt weiterleben. Er war zu allen Untersuchungen gegangen, hatte sich mit Hingabe die Arme löchrig stechen und sich von allen Seiten durchleuchten lassen. Hatte gleich die Chemotherapie akzeptiert, war sofort hingegangen, trotz der gruberimmanenten Scheu vor Spritzen, fremden Ärzten, Krankenhäusern, dem Geruch von Krankenhäusern, den Farben von Krankenhäusern, der Möblierung von Krankenhäusern, den fürchterlichen Schuhen, die in Krankenhäusern getragen wurden, den Kranken in den Krankenhäusern. Er hatte alles gemacht, was beizutragen er imstande war, dass es Gruber weiterhin gab. Aber er hatte, bis zu diesem Henry-Tag, als man festgestellt hatte, dass der Tumor trotz mehrerer Chemoattacken nicht geschrumpft war, oder zumindest weit weniger, als erwartet wurde, und dass sich trotz der Chemos möglicherweise sogar Metastasen gebildet hatten, keine Sekunde daran gezweifelt, dass das, das mit dem Weiterleben, trotz aller Hindernisse, die sich ihm nun in den Weg gelegt, gestapelt, zu Gebirgen zusammengeschoben hatten, funktionieren würde. Er hatte nach der Erstdiagnose relativ normal weitergelebt, unter anderem deshalb, weil ihm die Chemotherapie nicht allzu viel ausmachte, nicht annähernd so viel, wie er von Bekannten gehört, im Internet gelesen und von Chemo-Mitpatienten erzählt bekommen hatte. Er fühlte sich zwar leicht benommen nach den Behandlungen, die Körperhaare waren ihm ausgegangen und hatten innen an Hemden und Hosen geklebt, er hatte sie ausgeschüttelt und im Spiegel ängstlich sein Kopfhaar kontrolliert. Ja, es waren ihm auch Kopfhaare ausgegangen und er hatte sich seine sonst penibel gestylten dunklen Locken zu einer Kurzhaarfrisur schneiden lassen, und davon war ihm überraschenderweise das meiste geblieben. Er hatte sich die meiste Zeit fit und einigermaßen gesund gefühlt, und hatte mit seinem Krafttraining einfach weitergemacht. Er hatte sich für unbestimmte Zeit beurlauben lassen, die Firma hatte, nachdem Gruber einige sehr stichhaltige Argumente vorgebracht hatte, vorerst darauf verzichtet, ihn zu feuern, trotz des Zürcher Debakels. Er war weiter ausgegangen. Er hatte weiter getrunken. Sein Leben hatte sich, bis auf die Krankenhaus- und Arzttermine und bis auf die Handvoll Cortisontabletten, die er nach jeder Chemo drei Tage lang hinunterzuwürgen hatte, eigentlich nicht radikal verändert. Erst als ihm in Gegenwart von Henry und seiner Freundlichkeit die Tränen geschossen waren wie einem kleinen Mädchen, an diesem Tag der schlechten Diagnose, an dem Tag des unveränderten Tumors, war ihm klar geworden, dass es ihn vielleicht wirklich nicht mehr lange geben würde, dass er möglicherweise tatsächlich bald sterben würde. Dass er vielleicht schon am Sterben war. Noch nicht: im Sterben lag. Aber im Sterben stand, im Sterben saß, im Sterben den Porsche lenkte, sich im Sterben in der Savile Row einen Anzug anpassen ließ, im Sterben diese unwiderstehlichen Boots von J. M. Weston anprobierte und um unfassbar viel Geld erwarb, im Sterben mit Fabio über die perfekte Zubereitung eines Branzinos alberte, im Sterben Nachrichten an Sarah tippte, im Sterben mit einem warmherzigen, bärtigen Amerikaner schlief. Und im Sterben ein tatsächlich fantastisches, gefülltes Zitronenhuhn mit Salbei verspeist, vielleicht eben gerade das letzte Salbeizitronenhuhn seines Lebens isst, wann wird ihm je wieder jemand so ein Huhn, genau so eins braten, so gefüllt, mit genau so einer knusprigen Haut? Und es auf so einen hübschen, alten Teller legen, Zucchini, Mangold und ein paar Kartoffeln dazuschaufeln und es im zarten, noch kaum dämmrigen Abendlicht vor Gruber auf so einen alten Holztisch stellen? Gruber schaut von seinem Teller hoch und dem Spießer in die Augen.
«Das ist gut, Tom.»
Der Spießer starrt Gruber verdattert an. Und misstrauisch. Klar. Logisch. Es ist vielleicht die erste Nettigkeit, die erste aufrichtige, nicht zynisch gemeinte Nettigkeit, die Gruber je an den
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