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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Ach, ja: Freiheit. Und wie war es wohl draußen, jenseits der vergitterten Fenster und des Drahtzauns? Sonnig und kühl, ein Wind vom Meer, der nach Wracks und Muscheln roch – Miesmuscheln, naß aus dem Sand gegraben und für eine Suppe gehackt.
    Als Tierwater sich behutsam vom Bett herunterließ, um Bill Driscoll nicht zu wecken, der offenbar vorhatte, seine Strafe durchzudösen, da fühlte er sich gut, erfrischt und zu allem bereit. Es war Samstag und damit Besuchstag, für den frühen Nachmittag erwartete er Andrea und Sierra. Er würde seine Frau küssen – einmal zu Anfang des Besuchs und einmal am Ende, das gestatteten die Vorschriften –, und er würde seiner Tochter die Hand tätscheln und ihr zuhören, wie sie von der Schule, den Jungs und den Boutiquen erzählte und daß sie so total froh war, dieses Kuhkaff und das ganze blöde Sarah-Drywater-Ding hinter sich zu haben. Er wollte sich ihr öffnen, ihr erzählen, wie sehr sie ihm fehlte und daß er alles wiedergutmachen würde, sobald er wieder draußen wäre, aber es gelang ihm nicht; sie war immer so stumm im Besucherraum, eingeschüchtert von der Umgebung – und, wie er langsam vermutete, auch von ihrem Vater. Er starrte sie über den Tisch hinweg an und wußte nichts zu sagen.
    Er sah sie einmal im Monat, und jedesmal war sie ein neuer Mensch, nicht mehr der rotgesichtige Säuglingszwerg, den er sich über die Schulter geworfen hatte wie einen Teppich, oder das kleine Mädchen, das auf einer verstimmten Geige fiedelte, während die Sonne durch die Bäume brach, oder auch nur der schlaksige Teenager, der auf den Stufen von Ratchiss’ Hütte Monopoly spielte. Sie wurde erwachsen, ohne ihn. Inzwischen war sie fünfzehn, fast so groß wie Andrea, mit der erblühenden Figur einer Frau, und er hatte ihr so viel zu erzählen. Jedenfalls dachte er das. Aber wenn sie tatsächlich da war, ihm am Tisch gegenübersaß, während Bill Driscoll sich mit dröhnender Stimme bei der stupsnasigen kleinen Fitness-Tussi, die vermutlich seine Frau war, über das Essen beschwerte, und die Mutter von Amaury Benitez in ein Taschentuch von der Größe eines Bettvorlegers heulte, fiel ihm einfach kein guter Rat ein, weder väterlicher noch sonst einer.
    Doch jetzt, jetzt zog er sich den Gürtelbund hoch und schlenderte den Korridor entlang und zur Tür hinaus auf den Hof, jedesmal von neuem erstaunt über die Weite des Himmels und das Gefühl der Sonne auf seinem Gesicht, und ihn plagten keine Sorgen. Sechsundzwanzig Tage. Das war gar nichts. Er würde in das Haus ziehen, das Andrea für sie in Tarzana gemietet hatte, den Rasen mähen und den Müll raustragen, und er würde Sierra morgens zur Schule bringen und sie am Nachmittag wieder abholen, er würde sie zum Einkaufen fahren, zum Eisessen, ins Kino, und alles wäre so wie früher, bevor Teo und Sheriff Bob Hicks die Szene betreten hatten. Ja. Und dann war da noch Andrea. Er würde sie lieben, körperlich – die ganze Nacht lang, jede Nacht – und nicht nur in dem armseligen Theater seiner Phantasie.
    Ein paar Häftlinge sonnten sich an der Südmauer des Schlafgebäudes – Anthony Imbroglio, ein Kleinkrimineller aus Long Beach, und sein Schlagmuskel, ein beständig grinsender, fettgesichtiger Gorilla namens Johnny Taradash –, und Tierwater grüßte sie mit einem unverbindlichen Nicken, nicht gerade freundlich, aber auch nicht respektlos. Darum ging es hier, um Respekt. Auch wenn dieser Knast für nichtgewalttätige Ersttäter reserviert war – nichts im Vergleich zu den Hoch- oder auch nur Normalsicherheitstrakten, wo die Leute alle wegen bewaffneten Raubüberfalls, Mord und Bandenbildung einsaßen und man blockweise in Zellen weggesperrt war wie in einem alten Film mit George Raft –, konnte einem hier trotzdem übel mitgespielt werden. Denn neben den vielen übergewichtigen Buchhaltern, hühnerbrüstigen Gaunern und Börsenbetrügern mit Plattfüßen und Silberblick traf man auch auf Drogenhändler, muskelbepackte Schulabbrecher und ethnische Gruppen mit Gang-Hintergrund – Schwarze, Latinos, Indianer –, und die waren alle mordssauer, und alle stemmten Gewichte, statt sich um Investmentfonds zu sorgen.
    Am Ende von Tierwaters erster Woche hatte ihm Johnny Taradash den Gedanken unterbreitet, Andrea möge jeden Monat hundert Dollar auf Anthony Imbroglios Konto bei der der First Interstate Bank in Los Angeles einzahlen. Zu seinem eigenen Schutz sozusagen. Tierwater war damals noch schwach und schmächtig wie ein

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