Grün war die Hoffnung
ihr die Evolution sofort das Insekt zur Seite, das daran fraß, und den Pilz, der sie verrotten ließ, und dann den Vogel, der sich vom Insekt ernährte, und die Katze, die den Vogel verspeiste. Marco wiederum, mit dem Gewehr in der Hand und Schneekristallen im Gesicht, gab soeben sein Allerbestes, um einer anderen, viel größeren Lebensform das Leben zu nehmen. Warum auch nicht? Wenn die Läuse seine Brüder und Schwestern zwischen den Beinen beknabbern konnten, wieso sollte er dann nicht – wieso sollten sie nicht alle – an einer Elchkeule knabbern?
Inzwischen war es fast vollkommen dunkel. Die Bäume waren schwarze Schatten, die Fährten kaum noch zu sehen. Marco kniete sich hin, um sie zu lesen, sämtliche Sinne hellwach und gespannt, er horchte und spähte, wagte kaum zu atmen, dann hob er den Kopf, und da war er, der Elch, oder der Kopf eines Elchs, der da hinter einer Fichte aus einer dunklen Schattenballung herausragte. Er war wachsam, dieser Elch, blähte die Nüstern in dem Versuch, die Witterung aufzunehmen, und sein massiger Körper blieb zum Großteil hinter den Bäumen verborgen, ohne viel Eile, sich der Gefahr auszusetzen. Marco wartete einen langen, atemlosen Moment darauf, daß der Elch ins Freie hinaustrat, er schätzte ab, wo die Schulter erscheinen würde, damit er auf den Punkt knapp dahinter zielen und so den tödlichen Treffer landen konnte. Doch das Tier bewegte sich kaum, da war nicht mehr als ein Zucken, mit dem es überhaupt als lebendig zu erkennen war, und schließlich, weil Marco Angst hatte, seine Chance zu verpassen, legte er an, das Blut raste in seinen Adern – nicht danebenschießen, bloß nicht! –, und drückte ab. Donner und Blitz rissen die Nacht auf, und dennoch blieb das Vieh wie angewurzelt stehen. Erst als er den zweiten Schuß abfeuerte, sank es in einem dunklen Gleiten zu Boden, und er sprang sofort hinzu, mit zitternden Händen und schwach gewordenen Beinen wollte er sich seine Beute holen.
Der Schnee fiel mit mahnendem Zischen durch die Fichtennadeln. Marco stolperte vorwärts, eine Kugel hatte er noch, die in der Winchester, und er betete, daß das Vieh tot war, daß er nicht noch einen Schuß opfern mußte, denn zwei waren genug für einen Tag, mehr als genug. Und dann war er dort, bei dem Baum mit seinen engverwobenen Nadeln und der Rinde, die nach Harz roch, nach Badezusatz und Bodenpflege, und er merkte, daß das kein Elch war, was da – verletzt oder erlegt – als Haufen im Schnee lag. Im selben Moment hörte er einen gellenden, herzzerreißenden Laut, den Schrei eines Menschenbabys, das irgendein Unhold gerade mit dem Bajonett aufspießte, und er sah nach unten. Dort, zu seinen Füßen, lag wirklich etwas, eine schwarze, matt zappelnde lebende Gestalt, ein Tier, auf das er geschossen hatte, weil es sich gut zwei Meter über der Erde an den Baumstamm gekrallt hatte und ihm so als der Kopf eines Elchs erschienen war. Und was war es? Ein borstiges kleines Wesen, dessen Lebensgeister rasant durch das Loch entwichen, das er ihm verpaßt hatte – ein Stachelschwein, der bucklige, hoppelnde alte Mann der Wälder, bestenfalls als Hundefutter geeignet.
Lange Zeit stand er reglos da und sah zu, wie das Ding den stachligen Kopf gegen den Boden schlug, auf und nieder, auf und nieder, ein Metronom im Takt seiner Schmerzen und des ungläubigen Staunens – oder war das der Schwanz? Dabei gab das dunkle Klopfen auch dem vergeblichen Pulsieren seines eigenen Bluts den Rhythmus vor. Er fühlte sich verloren und hilflos und unfähig, empfand Scham, empfand Schuld. Und dann, während die Nacht noch dunkler wurde und der Schnee auf sein schutzloses Gesicht niederpeitschte, trat er mit dem Stiefelabsatz auf die dunkle Masse zu seinen Füßen ein, bis sie sich nicht mehr rührte, dann hetzte er davon, um den Weg wiederzufinden, auf dem er gekommen war.
29
Sie war schon immer ein Nachtmensch gewesen, jedenfalls schätzte sie sich selbst gern so ein. Nachtmenschen trieben sich in Discos herum, schliefen morgens aus und sogen den Glanz aus den schwindenden Stunden der Nacht, während die Spießerwelt pennte und von abgezahlten Hypotheken träumte. Niemand wollte ein Morgenmensch sein. Denn das waren die, die um halb acht Uhr grinsten und grienten und einem ihren Frohsinn entgegenschleuderten, wenn man nur mit Mühe auf den eigenen Namen kam und seine Bluse mit dem schicken Kragen falsch herum anhatte und die anderen Studenten – wohl auch alles Morgenmenschen – bereits
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