Grün war die Hoffnung
dem Mittelstreifen. Doch dann, als sie von der Schnellstraße abbiegt, tritt die Natur wieder auf den Plan, und zwar in Form einer Möwe, die auf das gleißende Geriffel des Meers zusegelt und deren Flügel so ungerührt sind wie das Meer und das erste Wesen, das an Land kroch.
Aber die Sache ist: Sie kann die Klinik nicht finden. Wo war die noch mal? In der Harley Street? In der Ortega? Oder nein: Garden Street. Es war die Garden Street, nicht? Verärgert, wütend – aber noch weint sie nicht – zieht sie am Lenkrad, behindert durch Einbahnstraßen und Ampeln, die willkürlich auf Rot zu schalten scheinen, als hätte sich die Stadt gegen sie verschworen. Fahrradfahrer rasen aus allen Richtungen durch ihr Blickfeld, Fußgänger errichten an einer Kreuzung nach der anderen menschliche Mauern. Sie fährt zu schnell, dann wieder zu langsam. Hinter ihr hupt jemand. Sie blättert in Stadtplänen, von denen keiner Santa Barbara zeigt, und versucht gleichzeitig, ihr Handy aus der Handtasche zu angeln – sie wird einfach dort anrufen, ja, das wird das Beste sein, sie wird anrufen und sie um eine Wegbeschreibung bitten, aber sie wird noch nicht sagen, dass sie einen Termin bei einem Arzt oder bei der Beraterin will, mit der Tim und sie damals gesprochen haben, nur eine Wegbeschreibung, das ist alles –, als eine Frau in einem winzigen silberfarbenen Wagen, der wie ein Fön aussieht, direkt vor Alma langsam aus einer Einfahrt auf die Straße fährt und sie zusehen muss, wie ihr Wagen ganz zart, fast liebevoll gegen den Wagen der anderen rollt, Stoßstange gegen Stoßstange, so sacht wie zwei Billardkugeln, die einander mitten auf dem grünen Filz des Tisches küssen.
Hinter ihr erneut ein Hupen, ein erschrockenes Bremsenquietschen. Alma sieht das Gesicht der Frau, einer Frau, die nicht viel anders ist als sie selbst, einer Frau in den Dreißigern auf dem Weg zur Arbeit, das Haar gebürstet, mit frischem Augen-Make-up. Für einen Moment mustern sie einander, die Miene der Frau spiegelt in rascher Folge verschiedene Gefühle wider, von Erschrecken über Verlegenheit, Verärgerung und Wut zu Resignation, und dann öffnen sie gleichzeitig die Fahrertüren und steigen aus. Erst da bemerkt Alma die beiden Kinder auf dem Rücksitz des anderen Wagens, zwei kleine Mädchen in Schuluniformen, die angeschnallt sind und die Hälse recken, um zu sehen, was eigentlich passiert ist.
Die Anubis mit Heimathafen Santa Barbara, ein Zwölf-Meter-Kabinenkreuzer mit Glasfiberrumpf und zwei Volvo-Dieselmotoren, die sie bei ruhiger See auf gut achtzig Stundenkilometer beschleunigten, wurde 2005 direkt ab Werft von einem Ehepaar aus Santa Barbara gekauft, das sich verbessern wollte. Todd und Laurie Gilfoy, beide Ende Zwanzig, waren erfahrene Skipper – von Kindesbeinen an hatte Todd die Sommerferien auf der Dreamweaver , dem Boot seines Vaters, verbracht. Todd und Laurie hatten nach ihrem Studium an der UCSB geheiratet – Laurie war Grundschullehrerin und unterrichtete die zweite Klasse an einer Privatschule in Hope Ranch, während Todd, der einen Abschluss in Betriebswirtschaft hatte, zusammen mit seinem Vater die örtliche GMC-Niederlassung leitete. Sie hatten keine Kinder und verbrachten die Wochenenden gern auf dem Wasser, oft in Gesellschaft anderer junger Paare. Eines ihrer Lieblingsziele war Santa Cruz, insbesondere die Südküste der Insel, wo es wenige andere Boote gab, die die Aussicht verdarben. Beide tranken gern. Und wenn sie tranken, wetteiferten sie um die Aufmerksamkeit ihrer Gäste, was diesen mitunter unbehaglich war, besonders wenn sie sich auf einem Boot mitten auf dem Kanal befanden und es kein Entkommen gab.
An einem klaren Samstag im September, knapp einen Monat nachdem sie das Boot gekauft und auf den Namen Anubis getauft hatten (das war Lauries Idee gewesen, die sich für ägyptische Mythologie interessierte und eines Tages die großen Pyramiden am Nil besuchen wollte), luden sie zwei andere Paare zu einem Wochenendausflug nach Coches Prietos ein. Mit Jonas und Sylvie Ryerson waren sie seit dem Grundstudium befreundet; Ed und Lucinda Cherwin waren neue Bekannte, zehn Jahre älter und Nachbarn von Jonas und Sylvie. Man traf sich um zehn Uhr am Yachthafen, das Wetter war ideal: Temperaturen um fünfundzwanzig Grad, schwacher bis mäßiger ablandiger Wind und leicht bewegte See. Laurie erwartete sie in einem mit einem Leopardenmuster bedruckten Bikini und rosaroten Crocs am Tor, um sie zum Boot zu führen, wo Todd, der
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