Grün wie die Hoffnung: Roman (German Edition)
oder zumindest ihre Essenz – in seine Zeit und an seinen Ort transportieren musste. Zumindest wollte sie es versuchen. Und so saß sie in ihrem Kreis, die Kerzen waren angezündet, und die Kräuter schwammen auf dem Wasser in der Schale. Wieder einmal suchte sie ihn, wobei sie sich auf die Zeichnung seines Gesichts und auf den Verband, den sie mitgebracht hatte, konzentrierte.
»Ich suche den Mann mit diesem Gesicht, suche seine Zeit, seinen Ort. Ich halte sein Blut in meiner Hand und bitte mit seiner Macht. Suche und finde und zeige es mir. So möge es sein.«
Im Geiste sah sie ihn, wie er sich mit gerunzelter Stirn in Bücher vertiefte. Sie vergrößerte den Fokus, sah den Raum. Eine Wohnung? Trübes Licht, das auf sein Gesicht und seine Hände fiel.
»Wo bist du?«, fragte sie leise. »Zeig es mir.«
Und sie sah das Gebäude, die Straße.
Verblüfft sah sie hin. Damit hatte sie ganz sicher nicht gerechnet. Er war in New York, etwa sechzig Blocks entfernt und in der Jetztzeit.
Offensichtlich, dachte Glenna, war Eile geboten. Wer war sie, dass sie das Schicksal in Frage stellen durfte?
Sie schloss den Kreis, räumte ihre Gerätschaften fort und legte die Zeichnung in ihre Schreibtischschublade. Dann trat sie an ihren Kleiderschrank. Was trug eine Frau am besten, wenn sie ihrem Schicksal begegnete? Etwas Auffallendes, etwas Zurückhaltendes oder Geschäftsmäßiges? Etwas Exotisches?
Schließlich entschied sie sich für ein kleines Schwarzes, in dem sie sich jeder Situation gewachsen fühlte.
Während sie mit der Subway nach Uptown fuhr, ließ sie ihre Gedanken treiben. In ihrem Herzen spürte sie schon seit Wochen eine freudige Vorahnung. Und das hier war der nächste Schritt.
Was auch immer auf sie zukäme, was auch immer geschehen würde, sie wollte offen dafür sein.
Und dann würde sie ihre Entscheidungen treffen.
Der Zug war voll besetzt, deshalb musste sie stehen und hielt sich an der Schlaufe über ihrem Kopf fest. Sie mochte den Rhythmus der Stadt, das Tempo, die Geräusche.
Sie war in New York aufgewachsen, allerdings nicht in der Stadt, sondern in einem kleinen Ort, der ihr schon immer zu eng und abgelegen vorgekommen war. Sie hatte immer mehr gewollt. Mehr Farbe, mehr Leben, mehr Menschen. Die letzten vier ihrer sechsundzwanzig Lebensjahre hatte sie in der Stadt verbracht.
Ihre Gabe jedoch hatte sie immer schon erforscht.
In ihrem Blut summte es, als ob ein Teil von ihr wüsste, dass sie sich auf die nächsten Stunden ihr ganzes Leben lang vorbereitet hatte.
An der nächsten Station strömten Menschen herein, und sie ließ sich von den Geräuschen einhüllen, während sie sich das Bild des Mannes, den sie suchte, erneut vergegenwärtigte.
Kein Märtyrergesicht, dachte sie, dazu strahlte er zu viel Kraft aus. Und es war auch zu viel Wut in ihm. Sie hatte diese Mischung zugegebenermaßen interessant gefunden.
Er hatte einen mächtigen Kreis um sich gelegt, aber das, was ihn gejagt hatte, war auch stark gewesen. Auch sie liefen durch ihre Träume, diese schwarzen Wölfe, die weder Tier noch Mensch waren, sondern das Schrecklichste von beidem.
Sie tastete nach dem Anhänger, den sie um den Hals trug. Nun, sie war ebenfalls stark. Sie wusste, wie sie sich selbst schützen musste.
»Sie wird sich aus dir nähren.«
Die Stimme zischte an ihrem Hals, und ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken. Das, was gesprochen hatte, schien sie zu umfließen, und ihre Lippen gefroren in der Kälte seines Atems.
Die anderen Fahrgäste merkten nichts von der Kreatur, die wie eine Schlange um sie herumglitt. Sie standen oder saßen da, lasen und unterhielten sich.
Ihre Augen waren rot und ihre Eckzähne lang und spitz. Aus ihren Mundwinkeln tropfte Blut. Glenna schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatte menschliche Gestalt und trug zu allem Überfluss auch noch einen Business-Anzug. Blauer Nadelstreifen, weißes Hemd und Paisley-Krawatte.
»Wir sind ewig.« Mit seiner blutigen Hand wischte es einer Frau, die ein Taschenbuch las, über die Wange. Ohne etwas zu merken, blätterte die Frau um und las weiter.
»Wir werden euch wie Vieh zusammentreiben, euch reiten wie Pferde, euch in die Falle jagen wie Ratten. Eure Macht ist armselig und wirkungslos, und wenn wir mit euch fertig sind, tanzen wir auf euren Knochen.«
»Wovor habt ihr denn dann Angst?«
Die Kreatur entblößte ihre Eckzähne und sprang auf sie zu.
Glenna unterdrückte einen Schrei und taumelte zurück. Im gleichen Moment war die
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