Grüne Magie
Rückweg.
Als er die vertrauten Watten erreichte, ging er seiner alten Routine nach: Auf dem Grund suchte er nach Krustentieren; er verhöhnte den Oger, schwamm gelegentlich an die Oberfläche, um wachsam nach Anderen Ausschau zu halten. Und auf den Inseln und Sandbänken übte er sich darin, auf festem Untergrund zu gehen. Während eines Aufenthaltes an Land bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick dar: Er bemerkte eine Frau, die Eier in den Schlamm legte. Ern hielt sich im dichten Gras verborgen und sah fasziniert zu. Die Frau war nicht ganz so groß wie die Männer und wirkte auch nicht so knochig, doch der Schädelkamm offenbarte eine ebenso starke Ausprägung. Sie trug ein Tuch, das aus dunkelrotem gewobenen Stoff bestand: das erste Kleidungsstück, das Ern zu Gesicht bekam. Und er fragte sich, wie das tägliche Leben der Anderen beschaffen sein mochte.
Eine Zeitlang war die Frau beschäftigt. Als sie ging und verschwand, verließ Ern das Gras, um sich die Eier anzusehen. Eine Schicht Schlamm und einige darüber ausgebreitete Blätter und Halme sollten sie vor den Knochenvögeln schützen. Insgesamt befanden sich neun Eier im Nest, und Lehm trennte sie voneinander.
Dies, dachte Ern, ist also der Ursprung der Wasserkinder. Er erinnerte sich an seine eigene Geburt. Offenbar war er aus einem solchen Ei geschlüpft. Ern rührte die kleinen Objekte nicht an, strich vorsichtig den Schlamm zurück und legte auch die Blätter und Halme wieder aus, bevor er ins Wasser glitt.
Die Zeit verstrich. Die Anderen erschienen nicht noch einmal. Es verwunderte Ern, daß sie jetzt nicht mehr den Tätigkeiten nachgingen, die ihnen noch vor einer Weile so wichtig gewesen waren, aber andererseits handelte es sich dabei ohnehin um eine Angelegenheit, die sich seinem Verständnis entzog.
Bald darauf entstand erneut Unruhe in ihm. In dieser Hinsicht schien er einzigartig zu sein: Keiner seiner Artgenossen hatte sich jemals so weit von den Watten entfernt. Einmal mehr brach Ern auf und schwamm an der Küste entlang, diesmal in die andere Richtung. Er durchquerte die Sumpftiefe, in der der Oger lebte, und das Ungeheuer starrte zu ihm auf und gab ein drohendes Gurgeln von sich. Ern setzte seinen Weg rasch fort – obgleich er wußte, daß er nun eine Größe erreicht hatte, die selbst jenem Monstrum Respekt gebot.
Die Küste auf dieser Seite der Watten war interessanter und abwechslungsreicher als die andere. Er stieß auf drei recht große Inseln mit unterschiedlichen Gewächsen: schwarze Krüppelbäume, lange Stengel mit Bündeln aus rosafarbenen und weißen Blättern, von dunklen fingerartigen Fäden überzogen, glänzende Stämme mit Lamellen, deren oberste Abschnitte vorgewölbt waren und grauen Knospen Platz machten. Dann gab es keine Inseln mehr, und die Küste stieg ohne vorgelagerte Sandbänke aus dem Meer. Ern schwamm ganz nahe ans Ufer heran, um die starken Strömungen zu meiden, und nach einer Weile sah er einen ins Wasser ragenden Kiesstreifen. Er schob sich an Land und blickte sich um. Schirmbäume bildeten ein kleines Gehölz, und der Boden stieg sanft an. Dicht hinter diesem Bereich neigte er sich jäh in die Höhe und wurde zu einer steilen Klippenwand, auf der Ern ganz oben schwarzes und graues Dickicht erkannte. Noch niemals zuvor in seinem Leben hatte er etwas so Erhabenes gesehen.
Er kehrte ins Meer zurück und schwamm weiter. Die Landschaft veränderte sich erneut und wurde flach und sumpfig. Er passierte ein Konglomerat aus schwarzem Schleim, auf dem sich Hunderte von gelbgrünen Fibrillen gebildet hatten, und er achtete sorgfältig darauf, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Etwas später vernahm er ein pulsierendes Zischen, und als er übers Meer blickte, sah er einen riesigen weißen Wurm, der durchs Wasser glitt. Ern schwamm ganz leise weiter, und der Wurm kam vorbei, ohne ihn zu bemerken. Ern hielt nicht inne. Er bewegte Arme und Beine und trieb dahin, bis er schließlich eine Bucht entdeckte, die der anderen ähnelte. Auch in diesem Fall schien das Wasser bis direkt an die Finstere Wand heranzureichen. Er kroch auf den Strand, und sein Blick schweifte über eine öde Landschaft, die nur graubraunen Flecken einen Lebensraum bot. Der Fluß, der in die Bucht mündete, schien noch breiter zu sein als der, den er bei seiner ersten Reise entdeckt hatte. Ab und zu trug die starke Strömung Eisbrocken herbei. Ein kalter Wind wehte in Richtung der Sturmgrenze, und seine Böen peitschten das Wasser, ließen Gischt
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