Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
Da konnte man im Speisewagen wie in einem Restaurant sitzen und durch die Nacht rollen. Ich erklärte Cleo, es würde mir gefallen, zu essen und gleichzeitig irgendwohin zu fahren.
Idgie sagte immer: ›Ninny, ich glaube, du nimmst nur den Zug, um drin zu essen.‹ Und damit hatte sie recht. Ich liebte das Porterhouse-Steak, das da serviert wurde, und nirgends bekam man bessere Schinkeneier. Wenn der Zug in Kleinstädten hielt, verkauften die Einheimischen den Köchen frische Eier und Schinken und Forellen. Damals war alles frisch.
Jetzt koche ich nicht mehr viel. Oh, ab und zu mache ich mir eine Dose Campbell-Tomatensuppe warm. Nicht, dass ich eine gute Mahlzeit verschmähen würde. Aber so was findet man heutzutage nur schwer. Einmal meldete uns Mrs. Otis für das Projekt Essen auf Rädern von der Kirche an. Das war so schrecklich, dass ich’s gleich wieder abblies. Auf Rädern mag’s ja gewesen sein – aber nicht zu vergleichen mit dem Essen im Speisewagen.
Natürlich hat es auch seine Nachteile, wenn man so nahe bei den Bahngleisen wohnt. Mein Geschirr bekam lauter Sprünge, sogar das grüne Service, das ich gewann, als wir während der Wirtschaftskrise alle drüben in Birmingham ins Kino gingen. Ich weiß noch genau, welchen Film wir sahen – ›Hello Everybody‹ mit Kate Smith.«
Eifrig schaute sie Evelyn an. »Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an sie, aber damals nannte man sie den Singvogel des Südens – ein großes, dickes Mädchen mit starker Persönlichkeit. Finden Sie nicht auch, dass dicke Menschen eine gewisse Ausstrahlung haben?«
Evelyn lächelte schwach und hoffte, dass das stimmte, denn sie war bereits bei ihrer zweiten Kekspackung angelangt.
»Aber meine Züge würde ich für nichts hergeben«, fügte Mrs. Threadgoode hinzu. »Was hätte ich denn in all den Jahren tun sollen? Früher hatte man kein Fernsehen. Ich versuchte zu erraten, woher die Fahrgäste kamen und wohin sie wollten. Manchmal, wenn Cleo ein bisschen Geld zusammenkratzen konnte, packte er das Baby und mich in einen Zug, und wir fuhren nach Memphis und wieder zurück. Jasper, Big Georges und Onzells Sohn, war damals Gepäckträger bei Pullman und behandelte uns, als wären wir der König und die Königin von Rumänien gewesen. Später wurde er Präsident von der Vereinigung der Schlafwagenschaffner. Mit seinem Bruder Artis zog er nach Birmingham, als sie noch jung waren. Aber Artis landete zwei- oder dreimal im Gefängnis. Komisch – man weiß nie, wie ein Kind sich entwickelt. Zum Beispiel Ruths und Idgies kleiner Junge … Ein solches Leben hätte so manchen zerstört – aber ihn nicht. Man weiß nie, was im Herzen eines Menschen vorgeht, bevor er einer Prüfung unterzogen wird, nicht wahr?«
W HISTLE S TOP C AFÉ
W HISTLE S TOP , A LABAMA
16. Juni 1936
Sobald Idgie die Stimmen bei den Gleisen hörte, wusste sie, dass jemand verletzt worden war. Sie schaute hinaus und sah Biddie Louise Otis zum Café laufen.
Sipsey und Onzell waren gerade in die Küche gegangen, als Biddie die Tür aufstieß und schrie: »Euer kleiner Junge! Er wurde vom Zug überfahren!«
Sekundenlang blieb Idgies Herz stehen, und Sipsey presste die Hände auf den Mund. »O heiliger Jesus!«
Idgie wandte sich zu Onzell. »Pass auf, dass Ruth hinten bleibt!« Dann rannte sie zu den Gleisen. Der Sechsjährige lag auf dem Rücken, die Augen weit geöffnet, und starrte die Leute an, die sich entsetzt über ihn beugten.
Als er Idgie sah, lächelte er, und beinahe lächelte sie zurück und glaubte schon, alles wäre in Ordnung, bis sie seinen Arm in einer Blutpfütze entdeckte, einen Meter entfernt.
Big George, der hinter dem Café am Barbecue gestanden hatte, kam angelaufen und sah das Blut. Er hob den Jungen auf und rannte, so schnell er konnte, zu Dr. Hadleys Haus.
Onzell blockierte die Hintertür und hinderte Ruth daran, das Wohnzimmer zu verlassen. »Nein, Miz Ruth, Sie dürfen nicht raus. Bleiben Sie da drin, meine Liebe.«
»Was ist los?«, fragte Ruth verängstigt und verwirrt. »Was ist passiert? Irgendwas mit dem Jungen?«
Onzell führte sie zur Couch und drückte sie darauf. »Still, Liebes … Warten Sie’s ab, alles wird wieder gut.«
»Was ist denn geschehen?«, rief Ruth in wachsender Furcht.
Im Café drohte Sipsey der Zimmerdecke mit dem Zeigefinger. »Tu das bloß nicht, Allmächtiger! Tu das Miz Ruth und Miz Idgie nicht an! Das darfst du nicht, hörst du?«
Idgie rannte hinter Big George her, und sie schrie, als sie
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