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Grüne Tomaten: Roman (German Edition)

Grüne Tomaten: Roman (German Edition)

Titel: Grüne Tomaten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fannie Flagg
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gemein. Aber Idgie meinte, das sei am besten, denn dann würde ihn niemand hinter seinem Rücken so nennen. Sie fand, er müsse sich mit der Tatsache seines Armstumpfs abfinden und dürfe da nicht empfindlich sein. Wie sich herausstellte, hatte sie recht, denn es gab keinen Jungen, der mit einem Arm mehr anfangen konnte. Er spielte mit Murmeln, ging jagen und angeln, tat alles, was er wollte. Und er war der beste Schütze von Whistle Stop.
    Wenn Fremde ins Café kamen, holte Idgie den Kleinen und bat ihn, die lange, wunderbare Geschichte zu erzählen, wie er am Warrior River einen Fisch geangelt hatte. Die Leute lauschten fasziniert, und dann fragte sie: ›Wie groß war der Fisch, Stump?‹ Da streckte er seinen gesunden Arm und den Stumpf aus, in der Art, wie’s auch erwachsene Angler tun, um die Länge eines Fisches anzuzeigen, und erwiderte: ›Oh, etwa so groß.‹ Und dann lachten Idgie und der Junge über die Mienen der Zuhörer, die herauszufinden versuchten, wie lang der Fisch gewesen sein mochte.
    Natürlich will ich nicht behaupten, Stump sei ein Heiliger gewesen. Er hatte seine Wutausbrüche, wie alle anderen kleinen Jungen. Aber in seinem ganzen Leben hörte ich ihn nur ein einziges Mal mit seinem Schicksal hadern – an jenem Weihnachtsnachmittag, wo wir alle im Lokal saßen, Kaffee tranken und Obstkuchen aßen. Plötzlich führte er sich auf wie ein Verrückter, brüllte wie am Spieß und zertrümmerte seine Spielsachen. Er war hinten im Wohnzimmer, und Idgie und Ruth rannten hin. Blitzschnell steckte Idgie ihn in seinen Mantel und zerrte ihn zur Tür hinaus. Ruth rannte ihnen besorgt nach und wollte wissen, wohin sie gehen würden. Da sagte Idgie, alles sei okay, sie würden bald zurückkommen.
    Eine Stunde später tauchten sie wieder auf, und da lachte Stumpf und war in bester Stimmung.
    Jahre später, als er in meinem Garten den Rasen mähte, rief ich ihn auf die Veranda und gab ihm ein Glas Eistee. Ich fragte: ›Stump, erinnerst du dich an den Weihnachtstag, wo du das Geschenk von Cleo zerschmettert hast, diesen Baukasten?‹
    Da grinste er und antwortete: ›Klar, Tante Ninny.‹ So nannte er mich.
    ›Wohin ist Idgie an jenem Nachmittag mir dir gegangen?‹, erkundigte ich mich.
    ›Oh, das kann ich dir nicht verraten‹, erwiderte er. ›Ich hab’ versprochen, den Mund zu halten.‹
    Also weiß ich immer noch nicht, wo sie damals waren. Jedenfalls muss Idgie ihm was gesagt haben, denn danach hörte ich ihn nie wieder über seinen verlorenen Arm jammern. 1946 war er Sieger bei der Jagd auf wilde Truthähne. Wissen Sie, wie schwer es ist, wilde Truthähne zu erlegen?«
    Das verneinte Evelyn.
    »Dann will ich’s Ihnen erklären, Schätzchen. Man muss diese Vögel direkt zwischen die Augen schießen, und die Köpfe sind nicht größer als meine Faust. Da muss man wirklich ein guter Schütze sein. Stump war auch in anderen Sportarten gut. Von seinem fehlenden Arm ließ er sich nie behindern. Und so süß war er. Es gab keinen lieberen Jungen.
    Natürlich hatte er eine gute Mutter, und er betete Ruth an. Das taten wir alle. Aber Stump und Idgie – das war ein ganz besonderes Gespann. Die beiden gingen jagen und angeln und ließen uns alle daheim. Ich glaube, am liebsten waren sie allein miteinander.
    Einmal steckte er sich ein Stück Pekannusstorte in die Tasche und ruinierte seine Hose. Ruth schimpfte mit ihm, aber Idgie fand es wahnsinnig komisch. Oh, sie konnte auch grob zu ihm sein. Als er fünf war, warf sie ihn in den Fluss, damit er schwimmen lernte. Aber eins müssen Sie mir glauben. Er gab seiner Mutter niemals freche Antworten, im Gegensatz zu anderen Jungs. Zumindest nicht, wenn Idgie dabei war. Die hätte das nämlich nicht geduldet. Er respektierte seine Momma. Was man von Onzells Sohn Artis nicht behaupten kann. Mit dem wurden sie einfach nicht fertig, was?«
    »Vermutlich nicht«, entgegnete Evelyn und bemerkte, dass Mrs. Threadgoode ihr Kleid verkehrt herum angezogen hatte.

W HISTLE S TOP , A LABAMA
    Weihnachtstag 1937
    Fast alle Jungs in der Stadt hatten zu Weihnachten Spielzeugpistolen bekommen, und die meisten versammelten sich in Dr. Hadleys Hinterhof, um eine Schießerei zu veranstalten. Der ganze Hof roch nach dem Schwefel von den Kapseln, die in der kalten Nachmittagsluft knallten. Hundertmal waren sie alle erschossen worden. Peng! Peng! Peng!Du bist tot!
    Peng! Peng!
    »Autsch, du hast mich erwischt … Autsch!« Der achtjährige Dwane Kilgore griff sich an die Brust,

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