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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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das Sternenlicht. Mally huschte zu ihm, kniete neben ihm nieder und fuhr ihm mit den Nägeln über die Haut. Das Bild eines brennenden Feuers übertrug sich von seinem Geist auf ihren, und Mally nickte.
    »Ja«, sagte sie. »Ali hat dich gerufen. Aber irgend etwas hat sie geholt. Ich glaube, es war die Wilde Jagd. Willst du mir helfen, sie zu finden?«
    Der Eber schüttelte den Kopf. Zwei Bilder blühten in rascher Folge in Mallys Geist auf. Das erste zeigte den Eber, der zu dem Feuer aus Knochen zurücklief, das zweite Mally, die den Bach überquerte.
    »O nein«, sagte Mally. »Ich muß mit dir gehen.«
    Sie sah dem prächtigen Wildtier in die Augen und wunderte sich darüber, wie deutlich der Gedankenaustausch diesmal war. Das Mysterium kümmerte sich sonst kaum um weltliche Dinge. Es ging einfach dorthin, wohin es ging, tat, was es tat, ohne jegliche Moral, wie ein Wind, der weder gut noch schlecht, sondern einfach nur vorhanden ist. Und ebenso wie der Wind ließ sich das Mysterium lenken. Durch Tommys Flötenspiel, die Wilde Jagd, das Mondlicht - durch tausend andere Dinge.
    Mally befürchtete, daß das Mysterium, wenn sie nicht bei ihm blieb, nach einer gewissen Zeit einfach abwandern und Ali vergessen würde - nicht, weil es nicht intelligent wäre, sondern weil es Mally nie einen Beweis dafür geliefert hatte, daß es eine Erinnerung besaß. Erinnerte sich vielleicht die Sonne daran, was sie bei ihrer täglichen Wanderung alles überquert hatte? Erinnerte sich der Wind an alle seine Reisen?
    Sie legte die Hand auf den Rücken des Ebers, trat aber hastig zurück, als er sich verwandelte. Die Borstenhaut wurde zu einem Mantel aus Blättern, der Eberkopf zu einem Männerkopf mit Widderhörnern statt eines Geweihs.
    Es hat tausendundeine Gestalten, dachte Mally.
    Das Mysterium betrachtete sie ruhig, und neue Bilder sprangen von seinem in ihren Geist über. Sie sah wieder das Feuer aus Knochen, das plötzlich zu zwei verschiedenen Feuern wurde. In einem sah sie nur Alis Gesicht - ängstlich und verzweifelt. Das andere zeigte Tony Valenti, der im Gras lag. Aus seinem Körper strömte Blut, und sein Leben verrann. Neben ihm stand Alis Mutter einem Mann gegenüber, an den Mally sich schwach erinnerte. Er war der Begleiter des Mannes gewesen, den sie letzte Nacht getötet hatte.
    »Was versuchst du mir zu sagen?« fragte sie den Mann in dem grünen Mantel aus Blättern.
    »Wer braucht dich jetzt mehr?« fragte das Mysterium zurück. »Die Verschwundene oder der Sterbende?«
    Mally taumelte erschrocken ein paar Schritte zurück. Noch nie zuvor hatte sie das Mysterium sprechen hören. Seine Stimme war wohlklingend und beruhigend - und schickte einen Schauer über Mallys Rücken.
    »Du ... du kannst sprechen?« fragte sie stockend.
    Plötzlich begriff sie das Erstaunen, das Ali zum erstenmal beim Anblick von Mallys Hörnern empfunden haben mußte, beim ersten Auftauchen des Hirschs, bei der ersten Veränderung in ihrem Leben. Mally wäre vielleicht weniger überrascht gewesen, wenn ein Baum sich plötzlich umgedreht und sie angesprochen hätte.
    »Niemand ... niemand braucht mich«, fuhr sie fort, als ihr bewußt wurde, daß das Mysterium ihr nicht antwortete.
    »Jedes lebendige Wesen braucht ein Geheimnis«, sagte Grünmantel. »Du mußt dich entscheiden, wessen Geheimnis du heute nacht sein willst. Ich werde dann zu der anderen Person gehen.«
    »Ich ...«
    Mally sah auf ihre Hände herunter und streckte die Finger. Sie waren geeignet zum Schlagen und Zupacken, zum ›Finden‹ von Dingen und ähnlichem. Aber zum Heilen ...? Sie hatte das Grollen der Explosion gehört, das vom Haus des lahmen Mannes herüberdrang. Jetzt lag er sterbend im Gras. Das hatte das Mysterium ihr gezeigt. Was konnte sie schon für den Mann tun? Außerdem fühlte sie sich dafür verantwortlich, was mit Ali geschah. Doch wenn die Hunde Ali in ihrer Gewalt hatten, war Mally nicht stark genug, um mit ihnen fertig zu werden. Sie konnte laufen, sogar sehr schnell, und kannte einige gute Tricks, aber das reichte nicht aus, um Ali zu retten. Vielleicht sollte sie doch zu dem lahmen Mann gehen.
    »Triff deine Wahl«, sagte das Mysterium.
    »Ich weiß es doch nicht!« rief Mally. »Ich bin nur ein Geheimnis - ein Rätsel und nicht die Antwort. Ich bin nicht so weise wie du.«
    Einen langen Augenblick sah das Mysterium sie an, drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
    »Du kannst doch nicht einfach weggehen!« rief Mally ihm nach. »Ich habe

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