Grünmantel
Siedlung, der Wildnis abgerungen, die sich von Hunderten anderen Siedlungen nur durch den Glauben seiner Bewohner unterschied. Durch den Glauben und durch ihre Insellage.
Damals hatten sie auch Freudenfeuer angezündet - unten am alten Stein. Einmal im Jahr opferten sie dem Geist, der aus Tommy Duffins Flötenspiel sprach, einen Widder oder einen Ochsen.
Damals war alles noch einfacher gewesen. Aber bald ging im Dorf die Solidarität verloren, als die Jungen auswanderten und die Alten wegstarben. Auch Lewis hatte sich verändert. Mally hatte ihm die Bücher des Dunklen Mannes gegeben, und er hatte ebenso alles in Frage gestellt wie die jungen Leute, die weggezogen waren - mit dem Unterschied, daß er geblieben war und eher am Ursprung des Rätsels nach Antworten gesucht hatte als draußen in der weiten Welt.
Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie mit den Opfern und den Freudenfeuern aufgehört hatten. Jetzt wuchs Gras an der Stelle, wo einst der rußgeschwärzte Kreis auf der Lichtung zu sehen gewesen, wo das rote Blut der Opfertiere geflossen war. Hatte es die Meute damals auch schon gegeben? Lewis wußte es nicht mehr. Sollten Perkins Hunde zu jener Zeit wirklich in der Gegend gewesen sein, hatten sie sich jedenfalls nicht so dreist verhalten wie heute.
Er fragte sich, was Ali und Mally heute nacht vorgehabt hatten. Keines der beiden Mädchen war hier. Lewis hatte nicht ganz begriffen, was Mally meinte, als sie rief, Ali sei weg. Verweht wie Rauch , so hatte das wilde Mädchen sich ausgedrückt. Von der Wilden Jagd entführt. Von Perkins Hunden. Sie könnten jetzt ebenso meine Hunde sein, dachte Lewis voller Unbehagen.
Er trat näher an das Feuer und entdeckte Alis Wanderstock am Boden. Schwerfällig bückte er sich, hob ihn auf und legte die Hand um den Griff.
Irgend etwas tut sich auf dieser Hügelkuppe heute nacht, dachte er. Irgend etwas ist anders. Er spürte etwas in der Luft - spürte, wie sie sich immer mehr mit - wie er annahm - Absichten und Vorstellungen füllte. Er fühlte sich nicht allein. Da lag eine Spannung in der Luft wie eine elektrostatische Aufladung, eine Schwere wie der Vorbote eines heftigen Sturms.
Lewis wandte sich vom Feuer ab und sah zum dunklen Saum des Waldes hinüber. Der Himmel war klar, und die Sterne standen glitzernd am schwarzen Himmel. Der Rauch des Feuers vermischte sich mit dem Duft der Zedern und Pinien. Wenn da wirklich ein Sturm aufzieht, dachte Lewis, darin aber kein Sturm physikalischen Ursprungs.
Was hatten die Mädchen hier oben getan? Das Mysterium gerufen - wozu? Um es zu befreien. Das reicht, um einen Sturm heraufzubeschwören, dachte Lewis.
Der dumpfe Knall von Louie Fucceris Raketenwerfer rollte über die Hügelkuppe, und Lewis sah zum Himmel hinauf, weil er dachte, es sei das Grollen des Donners. Der Himmel war klar wie zuvor. Aber dann bemerkte der alte Mann ein Glühen weit vorn in den Wäldern, wo Tony Valentis Haus liegen mußte. Gleich darauf hörte er das Knattern von Gewehrfeuer. Er spürte den Haß und die Wut, die frei wurden, wenn Menschen zu den Waffen griffen.
Lewis’ Seele war immer empfänglich gewesen für das Raunen der Wälder, für die Gegenwart des Mysteriums, für Tommys Musik, mit der er das Mysterium rief, und die Art, wie es darauf antwortete. Daher spürte er die Gefühlswellen, die von Valentis Haus herüberströmten, aber noch stärkere Gefühle drangen ganz aus der Nähe zu ihm. Auch hier spürte er Wut - und Furcht.
Er drehte sich langsam um. Wie zuvor stand er allein auf dem Hügel. Als sein Blick auf die alte Pinie fiel, erschauerte er, wußte aber nicht warum. Er tat einen Schritt auf den Baum zu, blieb aber sofort stehen, als er das Klappern von Hufen auf nacktem Felsgestein vernahm. Er sah sich nach dem Mysterium um, fühlte seine Nähe, konnte es aber nicht erkennen - nicht als Hirsch, nicht als Grünen Mann.
Mally, was hast du bloß hier aufgeweckt? dachte Lewis. Und wo bist du jetzt?
Mally hatte die träge dahinfließenden Wasser des Black Creek erreicht und wollte den Bach gerade auf den Trittsteinen überqueren, als sie merkte, daß sie nicht mehr allein war. Irgend etwas war da in der dunklen Nacht. Sie blieb am New Wolding-Ufer des Baches stehen und schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Hornie?« fragte sie.
Die Weiden rauschten, und zwischen den schlanken Bäumen zeichnete sich der verschwommene Umriß eines Ebers ab. Seine Hauer schimmerten, und seine borstige Haut verschluckte
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