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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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dieses Wort gebrauchte. »Näherst du dich ihm voller Lust, erscheint er als lüsterner Satyr. Kommst du voller Demut und Unterwürfigkeit, wird er zu einem majestätischen Wesen. Kommst du mit bösen Absichten, erscheint er als Dämon.«
    »Sie meinen - als Satan?«
    »Genau. Die Christen waren nicht dumm. Sie übernahmen soviel wie möglich aus anderen Religionen - alles, was ihnen nützlich erschien. Sie rümpften die Nase über Fröhlichkeit und Tanz, und so übertrugen sie Luzifer in die Figur des Wilden Pan, der, zumindest für sie, all das verkörperte, wogegen sie waren. Doch was kann man von einer Religion erwarten, die sich auf soviel Leiden gründet? Da wundert es wenig, daß die Jünger den Anblick des Kreuzes nicht ertragen konnten, an dem der Sohn ihres Gottes angenagelt war. Wußtet ihr eigentlich, daß das Kreuz ursprünglich das Zeichen für den Baum des Lebens war - das Zeichen für Nahrung und Lebensgebung? Sie haben es zu einem Symbol des Todes gemacht.«
    Ali schüttelte den Kopf. »Es steht nicht für den Tod - es steht für die Auferstehung. Christus starb, damit unsere Seelen gerettet werden.«
    »Und trotzdem ist es ein Symbol des Leidens. Ein Symbol, daß der Mensch die Mühen und Qualen dieser Welt auf sich nehmen muß, ehe er die Wonnen des Jenseits genießen darf. Im Himmel. Ich glaube nicht, daß man das Leben durchleiden muß um eine zweifelhafte Belohnung nach dem Tod zu erhalten. Leben kann und muß eine Freude sein - hier und jetzt!«
    »Was soviel bedeutet, daß die anderen von einem erwarten, ein guter Mensch zu sein«, meinte Ali.
    »Ein guter Mensch zu sein, findet meine volle Zustimmung, doch das Christentum tritt nicht dafür ein - zumindest nicht durch seine Aktionen. Bist du ein Christ?«
    »Ja. Das heißt, ich gehe nicht in die Kirche, aber ich denke, ich glaube an Gott ...«
    »Wir kommen zu weit vom Thema ab«, mahnte Valenti.
    Tatsächlich? dachte Bannon. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie hier über ein abgelegenes Asyl für unheilbare Geisteskranke gestolpert wären.
    »Also, wer oder was genau streift hier in den Wäldern umher?« wollte Valenti wissen. »Pan? Der Teufel? Was?«
    »Wir haben ihn als Hirsch gesehen - nicht als Mann mit Hörnern«, fügte Ali hinzu.
    »Man weiß von ihm, daß er beide Erscheinungen annimmt ... und noch viele andere mehr. Und wie ich schon vorher bemerkte, stelle ich ihn mir am liebsten als den Grünen Mann vor - als großen Mann mit brauner Haut und einem Geweih, der einen Mantel aus grünen Blättern trägt. Grünmantel.«
    »Aber was tut er?« fragte Valenti.
    »Er tut nichts. Er ist nur einfach da. Wir sind es, die etwas tun - gemäß unserer Natur.«
    Valenti betrachtete den alten Mann. »Und Ihre Leute verehren Grünmantel?«
    »Nicht in der Form, die Sie unter diesem Wort verstehen.« Lewis ließ den Blick über seine Besucher wandern. Schließlich sagte er: »Sie sollten heute abend hierbleiben. Kommen Sie mit uns zum Stein. Lauschen Sie Tommys Flötenspiel aus der Nähe, folgen Sie den Schritten des Tanzes. Vielleicht wird das Mysterium erscheinen, vielleicht nicht. Aber Sie werden dann alles besser verstehen.«
    Es folgte ein langes Schweigen.
    »Meine Mutter wird erst sehr spät zurückkommen«, meinte Ali zu Valenti.
    Er nickte. Er mochte es nicht laut aussprechen, befürchtete aber, daß es sich hier um ein Art Kult handelte, den er Ali nicht zumuten wollte. Andererseits hatte er selbst die Musik gehört, und was sie auch bedeuten mochte - sie bedeutete jedenfalls nichts Böses. Sie klang nicht drohend, hinterhältig. Das Mysterium besteht aus dem, was man zu ihm trägt, rief er sich sinngemäß die Worte des Alten ins Gedächtnis. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Er warf einen Blick zu Bannon hinüber, der gerade den Tee in die Becher goß. Bannon erwiderte seinen Blick, ohne zu verraten, was er dachte.
    »Also gut«, entschied Valenti. »Wir bleiben und gehen der Sache auf den Grund. Warum auch nicht?«
    »Warum auch nicht!« wiederholte Lewis lächelnd.
    Valenti musterte ihn scharf und versuchte, seine Miene, seinen Blick zu deuten. Lewis sah ihn offen an. Lachfalten furchten das Gesicht des Alten, doch es lag kein Spott in dem Lächeln. Valenti war nicht sicher, was es wirklich war. Aber er fühlte sich irgendwie seltsam - ähnlich wie bei der Musik aus dem Wald. Es war ein Gefühl, als habe er sich selbst nicht mehr völlig unter Kontrolle.
    Zuhause, auf den Stufen vor der Tür, störte ihn dieses Gefühl

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