Grünmantel
wir gerade bezogen haben.«
»Tatsächlich? Was ist passiert? Hat sie das Anwesen von ihrem alten Herrn geerbt, oder was?«
»Nein. Sie kam mit ihren Eltern nicht besonders gut klar. Sie verließ das Haus, als sie noch ziemlich jung war, aber damals hatte ihre Mutter ihren Vater schon verlassen und ... Nun, wir sind gerade zu etwas Geld gekommen, und daher hat sie das Grundstück gekauft und das Haus wieder hergerichtet.«
Wieso schwatze ich soviel? fragte sie sich insgeheim.
»Yeah, die Leute haben gute Arbeit geleistet.« Es folgte ein kurzes Schweigen, und beide nippten an ihrer Limonade. »Also leben nur du und deine Mom da drüben?«
Ali nickte. »Ja. Mein Vater ... wir sprechen nicht oft von ihm.«
»Ach so, tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Er verschwand, als ich noch ein Kind war. Aber er ist mit meiner Mom immer ziemlich ... grob umgesprungen.«
»Solche Burschen ...«, begann Tony stirnrunzelnd, schwieg aber sofort und lächelte schließlich. »Und woher kommt ihr jetzt?«
»Von Ottawa.«
»Dann wird es für euch hier oben ziemlich anders werden. Ich meine, es ist nicht weit bis zur Stadt, aber sehr ruhig. Verstehst du? Die Abende hier sind sehr still - und dunkel. Dauert ’ne Zeit, bis sich manche Leute daran gewöhnen.«
»Ich glaube, mir wird’s gefallen.« Ali leerte ihr Glas und stellte es ab. »Aber jetzt muß ich gehen, Mister ... äh ... Tony.«
»Mister ... äh ... Tony. Das gefällt mir. Es hat so einen besonderen Klang, findest du nicht?«
Ali lachte.
»Hör zu«, fügte er hinzu, »du kannst herkommen, wann immer du willst. Ich war nur vorhin so unfreundlich, weil die jungen Leute auf dieser Straße immer Spritztouren veranstalten. Ich meine, wozu soll das gut sein? Manchmal turnen sie auch auf meinem Grundstück herum, und das gefällt mir nicht. Ich will meine Ruhe haben. Aber du bist jetzt meine Nachbarin und scheinst auch ganz okay zu sein. Bring irgendwann mal deine Mom mit, dann mache ich uns ein paar Nudeln. Ich kann hervorragend Spaghetti kochen. Was hältst du davon?«
»Ich werde sie fragen.«
»Schön. Ich bringe dich noch bis zur Straße.«
»Das brauchen Sie nicht«, meinte Ali mit Rücksicht auf sein Bein.
Er fing den Blick auf, mit dem sie es musterte. »Nein, ist schon in Ordnung. Ich muß ihm viel Bewegung verschaffen. Ich kann zwar nicht mehr so schnell gehen wie früher, aber ich komme zurecht.«
Ali wollte ihn fragen, wie es zu dieser Verletzung gekommen war, beschloß aber, damit bis zum nächsten Mal zu warten. Sie hatte den Zufall schon weit genug herausgefordert. Zwar wirkte er jetzt wesentlich freundlicher, aber bestimmt fühlte er sich ohne die Anwesenheit eines neugierigen Teenagers viel wohler.
»Komm mich mal wieder besuchen«, sagte er, als hätte er schon wieder ihre Gedanken gelesen. »Und wenn du oder deine Mom etwas brauchen, dann ruft mich einfach an, okay?«
»Okay. Danke ... Tony.«
»Ciao« , antwortete er.
»Was heißt das?«
»Es bedeutet soviel wie ›Bis dann‹ oder ›Gib auf dich acht‹. Es kann aber auch ›Hallo‹ heißen.«
Ali lächelte. »Ciao!« rief sie und lief die Straße hinunter. Bei der Biegung drehte sie sich um. Er stand immer noch an der Straße vor seinem Haus. Sie winkte ihm zu, und als er zurückwinkte, setzte sie ihren Weg fort.
»Und er humpelt«, erzählte Ali beim Abendessen und biß in ihren Hamburger. »Außerdem redet er ein bißchen merkwürdig, wie ... ach, ich weiß nicht. Als ob er die Grammatik nicht besonders gut beherrscht.«
»Ali, das ist aber nicht nett.«
»Aber wahr. Doch ich sage das nicht, um mich über ihn lustig zu machen. Ich mag ihn.«
»Paß auf, daß du ihn nicht zu sehr störst.«
»Er möchte, daß wir irgendwann mal zum Dinner hinüberkommen. Er will uns Spaghetti kochen.«
»Und was sonst noch?« fragte Frankie lachend. Dann schob sie ihren halbgegessenen Hamburger auf dem Teller zurück und beugte sich zu ihrer Tochter. »Ali«, meinte sie vorsichtig, »er ist doch nicht etwa so ein Typ, der ... du weißt schon ... der dir Probleme machen könnte?«
»Nun, das kann man nie wissen, nicht wahr?«
»Ali!«
»Okay, okay. Nein, er scheint in Ordnung zu sein. Und außerdem hatte ich meinen dicken Stock dabei.«
»Ja, schon, aber ...«
»Und außerdem - ich könnte ihm jederzeit davonlaufen!«
Frankie schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich.«
Gemeinsam erledigten sie den Abwasch und verbrachten den Abend damit, die
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