Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
sie zu mir in den Betrieb geholt habe, da hat sie dann mit der Leni gemeinsam das getan, was
wir im Krieg getan haben: Kränze gebunden, Kränze garniert, beschleift, Blumen gebunden, bis sie invalid wurde. Irgendwie
habe ich die beiden, obwohl sies weder dachten noch aussprachen oder auch nur andeuteten, als einen lebenden Vorwurf empfunden:
die hatten keinen Gewinn, keinen Vorteil, und es wurde exakt so wie im Krieg – die Kremer kochte den Frühstückskaffee, und
das Mischungsverhältnis war eine Zeitlang, eine ziemlich lange Zeit lang, noch erbärmlicher als im Krieg. Und sie kamen mit
ihren Kopftüchern und ihren Butterbroten und dem Kaffeepulver in der Tüte wie eh und je. Die Kremer bis 66 und die Leni bis
69, zum Glück hatte sie ja über dreißig Jahre geklebt, aber wovon sie nichts weiß und nichts wissen darf: ich habe ihre Rentengeschichte
ganz in die Hand genommen und privat zugezahlt, damit sie nun wenigstens jetzt ein bißchen hat. Die ist ja kerngesund – aber
was wird sie denn kriegen, wenn es wirklich durchgeht mit der Rente? Keine vierhundert, ein bißchen mehr oder weniger vielleicht.
Verstehen Sie, daß ich sie – völlig unsinnigerweise – als lebenden Vorwurf empfinde? Obwohl sie mir gar nichts vorwirft, nur
hin und wieder mal zu mir kommt, um einen schüchternen Pumpversuch zu machen, weil man ihr was wegpfänden will, an dem sie
hängt. Ich bin nun mal tüchtig und kann organisieren, kann sogar rationalisieren, und es macht mir Spaß, meine Ladenkette
straff in der Hand zu haben und weiter aufzubauen – und doch: es bleibt da was, was mich sehr traurig macht. Ja. Auch, daß
ich Boris nicht helfen und nicht retten konnte vor diesem |328| absurden Schicksal: einfach von der Straße weg verhaftet als deutscher Soldat, und ausgerechnet er muß bei einem Bergwerksunglück
umkommen? Warum? Und warum konnte ich da gar nichts tun? Ich hatte doch diese guten Freunde bei den Franzosen, und die hätten mir nicht nur Boris, die hätten mir sogar einen deutschen Nazi
da rausgeholt, wenn ich sie darum gebeten hätte, aber als endlich klar war, daß er gar nicht mehr bei den Amerikanern, sondern
bei den Franzosen war – da war es ja schon zu spät, da war er ja schon tot – und nicht einmal seinen fiktiven deutschen Namen
haben sie ja richtig gewußt – ob er nun Bellhorst oder Böllhorst oder Bull- oder Ballhorst hieß, das wußten ja weder die Leni
noch diese Margret oder Lotte ganz genau. Wozu auch. Für sie war er Boris, und dieses deutsche Soldbuch haben sie sich natürlich
gar nicht so genau angesehen und schon gar nicht den Namen notiert.«
Es bedurfte einiger Gespräche und ausgiebiger Recherchen, um über das Sowjetparadies in den Grüften exakte Auskünfte zu bekommen.
Immerhin ließ sich dessen Dauer genau feststellen: vom 20. Februar bis 7. März 1945 lebten Leni, Boris, Lotte, Margret, Pelzer
und Lottes damals fünf- bzw. zehnjährige Söhne Kurt und Werner unter katakombenartigen Umständen in einem ganzen »Gruftsystem«
(Pelzer) auf dem Zentralfriedhof. Hatten Boris und Leni ihre »Einkehrtage« noch über der Erde in der Kapelle der Beauchamps
verbracht, so mußte nun »unter die Erde gegangen werden« (Lotte). Der Einfall stammte von Pelzer, der sozusagen die psychologischen
Grundlagen beisteuerte. In unveränderter Bereitwilligkeit empfing er den Verf. ein weiteres (und immer noch nicht das letzte)
Mal, in seinem Hobbyraum, neben dem Kranzmuseum, an der schwenkbaren eingebauten Bar, wo er Whisky long servierte und einen
Riesenaschenbecher |329| vom Umfang eines mittleren Lorbeerkranzes zur Disposition stellte. Die Melancholie eines Menschen, der ungeschoren höchst
widersprüchliche Geschichtsperioden überlebt hat, war für den Verf. überraschend. Ein Siebzigjähriger, der ohne in Herzinfarktgefahr
zu geraten, noch wöchentlich seine zwei Tennispartien absolviert, jeden, aber auch jeden Morgen seinen Waldlauf, der »noch
mit fünfundfünfzig« (P. über P.) Reiten gelernt hat und, »das im Vertrauen (P. zum Verf.), sozusagen unter Männern, Potenzschwierigkeiten
nur vom Hörensagen kennt«; die Melancholie, so schien dem Verf., steigert sich von Besuch zu Besuch, und zwar – wenn man dem
Verf. diesen psychologischen Schluß erlauben möchte – liegt bei Pelzer ein überraschender Grund für diese Melancholie vor:
Liebeskummer. Er begehrt Leni immer noch, er wäre bereit, »ihr das Blaue vom Himmel zu holen,
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