Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
zwanzig Jahren verstorben ist, regelrecht attackierte
und nach der Unterrichtsstunde mehrmals mit kindlicher Heftigkeit fragte: »Bitte, bitte, geben Sie mir doch dieses Brot des
Lebens! Warum muß ich so lange warten?« Dieser Religionslehrer, von dem der Name Erich Brings und einige Publikationen überliefert
sind, fand Lenis spontane Sinnlichkeitsäußerung »kriminell«. Er war entsetzt über diese Willensäußerung, die für ihn unter
den Namen »sinnliche Begierden« fiel. Er lehnte Lenis Ansinnen natürlich schroff ab, stellte sie zwei Jahre zurück wegen »erwiesener
Unreife und Unfähigkeit, Sakramente zu begreifen«. Für diesen Vorfall gibt es zwei Zeugen: den alten Hoyser, der sich gut
daran erinnert und zu berichten weiß, es sei »damals mit knapper Not ein Skandal vermieden worden«, und man habe sich lediglich
wegen der innenpolitisch heiklen Situation der Nonnen (1934!), von der Leni nichts ahnte, entschlossen, die »Sache nicht an
die große Glocke zu hängen«. Der zweite Zeuge ist der alte Herr selbst, dessen Steckenpferd die Partikellehre war, eine Lehre,
die darin besteht, monate-, wenn nötig jahrelang unter Berücksichtigung aller kasuistisch erdenklichen Umstände sich darüber
auszulassen, was mit den Partikeln der Hostie geschehen mag oder geschehen könnte oder hätte geschehen können, müssen, sollen.
Jener Herr also, der als Partikelspezialist immer noch einen gewissen Ruf genießt, publizierte später in einer theologisch-literarischen
Zeitschrift periodisch »Skizzen aus meinem Leben«, gab unter anderem das Erlebnis mit Leni, die er scham- und phantasielos
mit »eine gewisse L. G., damals zwölf Jahre alt« abkürzt, preis. Er schildert Lenis »flammende Augen«, ihren »sinnlichen Mund«,
herablassend bemerkt er ihre dialektgefärbte Aussprache, bezeichnet ihr Elternhaus als »typisch neureich, vulgär« und schließt
mit dem |41| Satz: »Einer derartig proletarisch-materialistisch geäußerten Begierde nach dem Hochheiligsten mußte ich natürlich die Spendung
desselben verweigern.« Da Lenis Eltern zwar nicht ungeheuer religiös, auch nicht sonderlich kirchlich waren und doch landschafts-
und milieubedingt es als einen Mangel, ja sogar als Schande betrachteten, »daß Leni noch nicht mitgegangen« war, ließen sie
Leni dann mit vierzehneinhalb, als sie schon im Pensionat war, »mitgehen«, wie man das auszudrücken pflegt, und da es Leni
zu jener Zeit schon – nach glaubwürdigen Auskünften von Marja van Doorn – nach Art der Frauen erging, mißglückte die kirchliche
Feier vollständig, die säkulare ebenfalls. Leni hatte dieses Stück Brot so heftig begehrt, ihr gesamtes Sensorium war bereit,
tatsächlich in Verzückung zu verfallen – »Und nun« (so schilderte sie es der damals entsetzten Marja van Doorn) »bekam ich
dieses blasse, zarte, trockene, nach nichts schmeckende Ding auf die Zunge gelegt – ich war drauf und dran, es wieder auszuspucken!«
Marja bekreuzigte sich mehrere Male und fand es überraschend, daß handgreiflich gebotene Sinnlichkeit: Kerzen, Weihrauch,
Orgel- und Chormusik, Leni nicht hatten über diese Enttäuschung hinweghelfen können. Nicht einmal das übliche Festessen mit
Spargel, Schinken, Vanilleeis mit Sahne konnte Leni über diese Enttäuschung hinweghelfen. Daß Leni selbst eine »Partikularistin«
ist, beweist sie täglich, indem sie sämtliche Brötchenkrümel vom Teller aufliest und in den Mund steckt (Hans und Grete).
Es sollen in diesem Bericht Obszönitäten möglichst vermieden werden, doch muß hier wohl der Vollständigkeit halber erklärt
werden, was der Religionslehrer im Pensionat, der Leni nur auf Druck der Direktorin zur Erstkommunion zuließ, ein jüngerer,
ebenfalls asketischer Mensch namens Horn, den jungen Mädchen, bevor sie – |42| die Jüngste von ihnen sechzehn, die Älteste einundzwanzig – das Pensionat verließen, an sexueller Aufklärung bot. Mit sanfter
Stimme bediente er sich einer ausschließlich kulinarischen Symbolik, verglich, ohne exakte biologische Details auch nur anzudeuten,
das Ergebnis des Beiwohnens, das er »notwendigen Fortpflanzungsvorgang« nannte, mit »Erdbeeren mit Schlagsahne«, verlor sich
in improvisierten Vergleichen, die erlaubtes und unerlaubtes Küssen beschreiben sollten, wobei »Schnekken« eine von den Mädchen
nicht zu eruierende Rolle spielten. Festgestellt werden muß, daß Leni, während die sanfte Stimme in
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