Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
nachdem
wir den Gärtner gefunden und von ihm die Adresse erfahren hatten. Eine Person von merkwürdiger Schönheit, deren Reiz auf Männer
sogar ich als Frau beurteilen kann (?? Der Verf.). Und dieses ebenso schöne Kind, mit dem langen, blonden, glatten Haar. Mein
Mann war bewegt – das Kind erinnerte ihn an den jungen Boris, wenn der auch mager und bebrillt gewesen war, und doch glich
es ihm, nicht wahr? (Nicken des Herrn. Der Verf.). Natürlich war ihre Erziehungsmethode falsch. Sie hätte sich nicht weigern
dürfen, den Jungen in die Schule zu schikken. Immerhin war der Junge damals siebeneinhalb, und es war doch die reine Romantik,
die sie mit ihm betrieb. Lieder singen und Märchen erzählen und dieses stilwidrige Gemisch aus Hölderlin, Trakl und Brecht
– und ich weiß nicht recht, ob Kafkas ›Strafkolonie‹ die rechte Lektüre für ein knapp achtjähriges Kind ist, und ich weiß
auch nicht, ob die naturalistischen Darstellungen aller, aber auch aller menschlicher Organe nicht zu einer, nun, sagen wir, etwas zu materialistischen Lebensbetrachtung |365| führt. Und doch: es war etwas Großartiges an ihr, obwohl doch die reine Anarchie herrschte. Ich muß schon sagen, diese Darstellungen
der menschlichen Geschlechtsorgane, dazu vergrößert; ich weiß nicht recht, ob das nicht ein wenig früh war – heute wärs ja
fast schon wieder zu spät (Lachen von beiden. Der Verf.). Aber süß, der Junge, süß und recht frei – und das Schicksal der
jungen Frau, die damals wohl gerade dreißig war, sozusagen drei Männer verloren hatte und den Bruder, den Vater, die Mutter
und stolz! Nein, ich habe nicht mehr den Mut gehabt, sie noch einmal zu besuchen, so stolz war sie. Korrespondiert haben wir
ja noch mit ihr, als mein Mann 55 mit Adenauer nach Moskau fuhr und tatsächlich im Außenministerium noch einen, in Worten
einen, Bekannten aus der Berliner Zeit auftrieb, den er ganz rasch zwischen Tür und Angel nach Koltowskis fragen konnte. Ergebnis:
negativ, die Großmutter, der Großvater des süßen Jungen – tot; und seine Tante Lydia – keine Spur.«
Der Herr: »Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß es Schuld der Westalliierten ist, wenn Boris nicht mehr lebt. Ich
meine damit nicht diese unglückselige und törichte Manipulation mit dem Soldbuch und die Tatsache, daß er bei einem Bergwerksunglück
umkam. Nein, das nicht. Die Schuld der Westalliierten besteht darin, daß sie mich verhafteten und für sieben Jahre internierten
bzw. hinter Schloß und Riegel steckten, wenn auch die Schlösser nicht gar zu sehr geschlossen und die Riegel nicht allzu fest
waren. Ich hatte doch mit Erich von Kahm abgemacht, daß er mich alarmieren sollte, wenn die Lage für Boris brenzlig würde,
aber angesichts der Fahnenflucht seines Wachpersonals hat er die Nerven verloren, und es war ja auch das Beste, das er in
dieser Situation tun konnte: ihn an die Erftfront schicken, wo er bei nächster Gelegenheit ohne Schwierigkeiten hätte überlaufen
können. Abgemacht wars anders: Kahm sollte ihm eine englische |366| oder amerikanische Uniform besorgen und ihn in ein Kriegsgefangenenlager für Engländer oder Amerikaner stecken – bis der Irrtum
aufgeklärt war, wäre der Krieg vorüber gewesen. Wahnsinn war es natürlich, ihm ein deutsches Soldbuch, eine deutsche Uniform
und noch eine manipulierte Verwundung anzuhängen. Das war Wahnsinn. Natürlich konnten weder Kahm noch ich ahnen, daß eine
Weibergeschichte dahintersteckte! Und ein Kind unterwegs und die Bombenangriffe! Irrsinn! Ich habe aus diesem Mädel damals
ja nicht viel rausgekriegt, sie hat sich bei mir bedankt, als sie erfuhr, daß ich es gewesen war, der Boris in die Gärtnerei
geschoben hat, aber bedankt – nun, vielleicht so, wie sich ein halbwegs ordentlich erzogenes Mädel für eine Tafel Schokolade
bedankt hätte. Die hat nicht geahnt, was ich riskiert habe und was mir ein Zeugnis von Boris in Nürnberg und so geholfen hätte.
Ich habe mich unsterblich blamiert, vor Gericht und vor meinen mitangeklagten Kameraden, als ich aussagte, ich hätte einem
Boris Lvović Koltowski, so und so alt, das Leben gerettet. Der sowjetische Ankläger sagte: ›Nun, wir werden versuchen, diesen
Boris Lvović Koltowski aufzutreiben, da Sie sogar die Stalag-Nummer wissen.‹ Aber er war auch nach einem Jahr nicht gefunden!
Ich habe das für eine gemeine Finte gehalten. Mir hätte Boris helfen können, wenn er
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