Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
sei; wenn sie dann noch von Zotten, Papillen, Ganglien und Ziliarmuskeln anfing, wurde hin und wieder ihr zweiter
Spitzname gemurmelt: Zottelnonne oder Nonnenzottel. Man muß bedenken, daß Rahel nur gelegentlich und wenig Zeit hatte, den
Mädchen irgend etwas zu erklären; der Tageslauf der Mädchen war genau festgelegt, und den |54| meisten galt sie tatsächlich als nicht viel mehr verantwortlich als für Toilettenpapier. Natürlich sprach sie auch über Schweiß,
Eiter, Menstruationsblut und – ziemlich ausgiebig über Speichel; es erübrigt sich fast festzustellen, daß sie eine heftige
Gegnerin allzu heftigen Zahnputzens war, jedenfalls wildes Zähneputzen kurz nach dem Aufstehen nur gegen ihre Überzeugung
und auch das nur nach schärfsten Protesten der Eltern duldete. Und sie besichtigte nicht nur die Augen der Mädchen, auch deren
Haut, leider, da sie einige Male von Eltern der schamlosen Berührung angeklagt worden war, nicht Brust und Bauch, nur Unter-
und Oberarme. Später dann ging sie dazu über, den Mädchen zu erklären, daß ein Blick auf die Exkremente, wenn man einige Erfahrung
mit sich gesammelt habe, eigentlich nur die Bestätigung für etwas sein müsse, was man ohnehin beim Aufstehen spürte: den Grad
des Wohlbefindens, und daß es sich – nach entsprechender Erfahrung – fast erübrige, sie noch anzuschauen, es sei denn, man
sei sich seines Zustandes nicht sicher und brauchte einen Blick darauf zur Bestätigung (Margret und B. H. T.).
Wenn Leni, was später immer häufiger geschah, krankfeierte, durfte sie hin und wieder sogar in Schwester Rahels kleinem Zimmer
eine Zigarette rauchen; Rahel erklärte ihr, mehr als drei bis fünf Zigaretten seien in Lenis Alter und für eine Frau nicht
gut. Wenn sie erwachsen sei, solle sie nie mehr als sieben oder acht Zigaretten rauchen, in jedem Fall aber unter zehn bleiben.
Wer mag da noch dem Wert von Erziehung widersprechen, wenn festgestellt werden kann, daß die achtundvierzigjährige Leni sich
immer noch an diese Regel hält und daß sie nun angefangen hat, auf einem Bogen braunen Packpapiers, der eineinhalb mal eineinhalb
Meter groß ist (weißes Papier dieser Größe ist beim gegenwärtigen Stand ihrer Finanzen für sie unerschwinglich), einen Wunschtraum
zu |55| verwirklichen, zu dem sie bisher keine Zeit hatte: den Querschnitt durch eine Schicht der Netzhaut naturgetreu zu malen; sie ist tatsächlich entschlossen, sechs Millionen Zapfen und hundert Millionen
Stäbchen unterzubringen – und das alles mit dem hinterlassenen Kindermalkasten ihres Sohnes, zu dem sie hin und wieder billige
Farbsteine hinzukauft. Bedenkt man, daß sie täglich auf höchstens fünfhundert Stäbchen oder Zäpfchen kommt, jährlich auf ungefähr
zweihunderttausend, so wissen wir sie noch auf fünf Jahre voll beschäftigt und verstehen vielleicht, daß sie ihre Arbeit als
Blumenbinderin um der Stäbchen- und Zäpfchenmalerei drangegeben hat. Sie nennt ihr Gemälde »Teil der Netzhaut am linken Auge
der Jungfrau Maria, genannt Rahel«.
Wen wird es erstaunen, wenn er erfährt, daß Leni beim Malen gern singt? Texte, zu denen sie bedenkenlos Schubert und Volksliedelemente
und was sie so in »Haus und Hof« (Hans) von Schallplatten hört, mit Rhythmen und Melodien mischt, die einem Schirtenstein
»nicht nur Rührung, Aufmerksamkeit und Achtung« (Schirtenstein) abzwingen. Offenbar ist ihr Gesangsrepertoire umfangreicher
als ihr Repertoire auf dem Klavier; der Verf. ist im Besitz eines Tonbandes, das Grete Helzen für ihn aufgenommen hat und
das er kaum abhören kann, ohne daß ihm die Tränen nur so über die Wangen strömen (Der Verf.). Leni singt ziemlich leise, mit
einer trockenen, kraftvollen Stimme, die nur aus Schüchternheit leise klingt. Sie singt wie ein Mensch, der aus einem Verlies
heraussingt. Was sie singt?
Silbern schaut ihr Bild im Spiegel
Fremd sie an im Zwielichtscheine
Und verdämmert fahl im Spiegel
Und ihr graut vor seiner Reine.
|56| Unkeuschheit und Armut sind meine Gelübde
Unkeuschheit hat oft meine Unschuld versüßt
Was einer in Gottes Sonne verübte
Das ists, was in Gottes Erde er büßt ...
Die Stimme wars des edelsten der Ströme, des freigeborenen Rheins – wo aber ist einer, um frei zu bleiben sein Leben lang
und des Herzens Wunsch zu erfüllen, so – aus günstigen Höhn wie der Rhein und aus so heiligem Schoße geboren wie jener?
Und als der Krieg im ersten Lenz keinen
Weitere Kostenlose Bücher