Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Auto, spielt Tennis, begleitet ihren Vater zu Konferenzen und auf Geschäftsreisen. Leni wartet auf einen Mann,
»den sie lieben, dem sie sich bedingungslos hingeben will«, für den sie schon »kühne Zärtlichkeiten ersinnt – er soll Freude
an mir haben und ich an ihm« (Margret). Leni läßt keine Gelegenheit zum Tanzen aus, sitzt in diesem Sommer abends gern auf
Terrassen, trinkt Eiskaffee und spielt ein bißchen die »elegante Frau«. Es gibt verblüffende Fotos von ihr aus dieser Zeit:
immer noch könnte sie sich um den Titel eines »deutschesten Mädels der Stadt«, ja, des Gaus bewerben, vielleicht gar der Provinz
oder jenes politisch-geschichtlich-geographischen Gebildes, das unter dem Namen Deutsches Reich bekannt geworden ist. Sie
hätte als Heilige (auch Magdalena) in einem Mysterienspiel auftreten, als Reklame für Hautcreme verwendet werden, möglicherweise
sogar in Filmen eine Rolle spielen können; ihre Augen sind nun gänzlich nachgedunkelt, fast schwarz, sie trägt ihr dichtes,
blondes Haar wie auf Seite 7 beschrieben, und nicht einmal das kleine Verhör bei der Gestapo und die Tatsache, daß jene Gretel
Mareike zwei Monate in Haft gesessen hat, hat sie erheblich in ihrer Seinsgewißheit gestört.
Da sie auch von Rahel zu wenig über den biologischen Unterschied zwischen Mann und Frau erfahren zu haben |62| glaubt, sucht sie leidenschaftlich Informationen darüber. Sie wälzt Lexika: ziemlich ergebnislos, durchstöbert ebenso ergebnislos
die Bibliothek ihres Vaters und die ihrer Mutter; gelegentlich besucht sie Rahel an Sonntagnachmittagen, macht mit ihr lange
Spaziergänge durch den riesigen Klostergarten und fleht um Auskunft; nach einigem Zögern läßt Rahel sich erweichen und erklärt
ihr, wiederum ohne daß eine von ihnen auch nur andeutungsweise zu erröten brauchte, weitere Details, die sie ihr zwei Jahre
vorher noch vorenthalten hatte: das Instrumentarium männlicher Geschlechtlichkeit, dessen Erregung und Erregbarkeit mit sämtlichen
Folgen, Freuden, und da Leni Bildmaterial darüber begehrt, Rahel es ihr verweigert, weil sie behauptet, es sei nicht gut,
sich Bilder davon anzuschauen, gerät Leni auf Anraten eines Buchhändlers, den sie mit verstellter Stimme (was gar nicht nötig
gewesen wäre) anruft, ins »Städtische Gesundheitsmuseum«, wo ihr unter Geschlechtsleben hauptsächlich Geschlechtskrankheiten
geboten werden: vom gewöhnlichen Tripper über den weichen Schanker zum spanischen Kragen und über alle Stadien der Lues hinweg,
alles naturalistisch an entsprechend gefärbten Gipsmodellen, erfährt Leni von dieser unheilen Welt – und ist empört; zimperlich
war sie nie, was sie wütend machte, war die Tatsache, daß Geschlecht und Geschlechtskrankheiten in diesem Museum als identisch
zu gelten schienen; dieser pessimistische Naturalismus empörte sie ebenso, wie sie der Symbolismus ihres Religionslehrers
empört hatte. Das Gesundheitsmuseum erschien ihr als eine Variante auf die »Erdbeeren mit Sahne« (Zeugin Margret, die – wieder
einmal errötend – sich selbst weigerte, zu Lenis Aufklärung beizutragen). Nun könnte hier der Eindruck entstehen, Leni sei
auf eine heile und gesunde Welt ausgewesen. Keineswegs; ihr materialistisch sinnlicher Konkretismus ging so weit, daß sie
den zahlreichen Annäherungsversuchen |63| gegenüber, denen sie ausgesetzt war, weniger ablehnend wurde und schließlich dem begehrlichen Flehen eines jungen, ihr sympathischen
Architekten aus dem Büro ihres Vaters nachgab und ihm ein Stelldichein gewährte. Wochenende, Sommer, ein Luxushotel am Rhein,
abends Tanz auf der Terrasse, sie blond, er blond, sie siebzehn, er dreiundzwanzig, beide gesund – das klingt nach happy end
oder mindestens happy night –, es wurde nichts draus; schon nach dem zweiten Tanz verließ Leni das Hotel, bezahlte für ein
unbenutztes Einzelzimmer, in dem sie ihren Morgenrock (= Bademantel) und ihren Toilettenkamm nur flüchtig ausgepackt hatte,
fuhr zu Margret und erzählte jener, schon beim ersten Tanz habe sie gespürt, »der Kerl« habe keine »zärtlichen Hände« gehabt,
und eine gewisse flüchtige Verliebtheit sei sofort verflogen gewesen.
Nun ist deutlich zu spüren, daß der bis hierhin mehr oder weniger geduldige Leser ungeduldig wird und sich die Frage stellt:
verflucht, ist diese Leni etwa vollkommen? Antwort: fast. Andere Leser – je nach ideologischer Ausgangsbasis – werden die
Frage
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