Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
in einer Privatsammlung
in einem ausgesprochen unsympathischen Milieu aufgestöbert und nur kurz besichtigt werden), die Chance genutzt hat, Gruyten
wenigstens einmal halb von der Seite zu porträtieren, bleibt es lediglich eine Vermutung, daß er wahrscheinlich – entkleidet
man ihn der modischen Kinkerlitzchen – ausgesehen hat, als wäre er einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen.
Wäschegeheimnisse hat Marja nur angedeutet, über Küchengeheimnisse sprach sie offen. »Sie mochte starke Gewürze nicht, er
dagegen mochte alles stark gewürzt – das gab schon gleich Schwierigkeiten, weil ich meistens alles zweimal würzen mußte: für
sie laff, für ihn stark; es kam dann drauf hinaus, daß er später alles am Tisch eigenhändig nachwürzte; schon als Junge war
er im Dorf dafür bekannt, daß man ihm eher mit einer eingelegten Gurke als mit einem Stück Kuchen eine Freude machen konnte.«
Das nächste erwähnenswerte Foto ist ein Bild von der Hochzeitsreise, die nach Luzern führte. Kein Zweifel ist möglich: Frau
Gruyten, Helene geb. Barkel, sieht entzükkend aus: zart und zärtlich, liebenswürdig und fein; man sieht ihr an, was durch
alle Eingeweihten, sogar durch Marja, nicht bestritten wird: daß sie ihren Schumann und ihren Chopin zu spielen gelernt hat,
Französisch ziemlich fließend spricht, Häkeln, Sticken etc. und – es muß gesagt werden: man sieht, daß möglicherweise eine
Intellektuelle an ihr verlorengegangen ist, vielleicht sogar eine potentielle linke Intellektuelle; natürlich hat sie Zola
– wie man es sie gelehrt hat – nie »angerührt«, und man kann |81| sich vorstellen, wie entsetzt sie gewesen sein muß, als acht Jahre später ihre Tochter Leni nach ihrer (Lenis) Verdauung fragt. Wahrscheinlich waren Zola und Kot für sie fast identische Begriffe. Eine Ärztin steckte wahrscheinlich nicht in ihr,
doch sicher hätte ihr eine Promotion in Kunstgeschichte keine Schwierigkeiten gemacht. Man muß gerecht sein: schafft man ihr
einige Voraussetzungen, die sie nicht gehabt hat; eine weniger elegisch als analytisch angelegte Ausbildung, weniger Seelchen
und mehr Seele (wenn schon), und wäre sie von all den Zimperlichkeiten, die ihr Pensionatsleben bestimmten, verschont geblieben,
vielleicht hätte sie doch eine gute Ärztin werden können. Ganz sicher ist – wären solche frivolen Bücher auch nur als potentielle
Lektüre in ihre Nähe geraten –, sie wäre eher eine Proust- als eine Joyceleserin geworden; so las sie immerhin Enrica von
Handel-Mazzetti, Marie von Ebner-Eschenbach und ausgiebig in jenem inzwischen antiquarisch wertvollen katholischen, illustrierten
Wochenmagazin, das damals das Allermodernste vom Allermodernen in dieser Sparte war, vergleichsweise das »Publik« der Jahre um 1914–20, und wenn man
außerdem weiß, daß sie, als sie sechzehn Jahre alt wurde, von ihren Eltern ein Abonnement der Zeitschrift »Hochland« geschenkt
bekam, so weiß man, daß sie nicht nur mit fortschrittlicher, daß sie mit fortschrittlichster Lektüre ausgestattet war; wahrscheinlich
durch ihre »Hochland«-Lektüre war sie bestens über Vergangenheit und Gegenwart Irlands informiert, waren Namen wie Pearse,
Connolly, sogar Namen wie Larkin und Chesterton ihr nicht fremd, und es ist nachgewiesen, durch ihre noch lebende Schwester
Irene Schweigert geb. Barkel, die in einem Altersheim für bessere Damen im Alter von fünfundsiebzig Jahren in der Gesellschaft
zärtlich flötender Sittiche »gelassen auf ihren Tod wartet« (Selbstzitat), daß Lenis Mutter als junges Mädchen zu den »ersten |82| , wenn nicht allerersten Leserinnen der deutschen Übersetzungen von William Butler Yeats gehört hat, ganz bestimmt – wie ich
selbst weiß, weil ichs ihr geschenkt habe – der 1912 erschienenen Prosa von Yeats und natürlich Chesterton.« Nun soll hier
keineswegs irgend jemandes literarische Bildung oder Unbildung für oder gegen ihn verwendet werden, sie dient lediglich zur
Beleuchtung eines Hintergrunds, der um das Jahr 1927 schon tragische Schatten aufweist. Eins ist ganz sicher, wenn man das
Hochzeitsreisebild aus dem Jahr 1919 betrachtet: was immer an und in ihr verhindert gewesen sein mag – eine verhinderte Kurtisane
war Lenis Mutter ganz gewiß nicht; sie wirkt nicht sehr sinnlich und keineswegs hormonstrotzend, während er ein Hormonstrotzer
ist; es könnte durchaus sein, daß die beiden – an deren Liebe zueinander
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