Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Heinrich betraf, zu einer höchst sonderbaren Äußerung verstieg, die vielfacher Kontrollen,
historischer Korrekturen bedürfte. »Sie sahen beide aus«, sagte sie wörtlich, »als wären sie bei Langemarck gefallen.« Bedenkt
man die Problematik von Langemarck, die Problematik des Mythos |85| von Langemarck, bedenkt man den Unterschied zwischen 1914 und 1940, bedenkt man noch ungefähr vier Dutzend komplizierter Mißverständnisse,
die hier nicht alle erläutert werden müssen, so kann man vielleicht verstehen, daß der Verf. sich von Frau Schweigert höflich,
aber kühl, wenn auch nicht endgültig, verabschiedete; und als er später durch den Zeugen Hoyser erfuhr, daß der bis dahin
ominös gebliebene Ehemann Schweigert bei Langemarck schwer verwundet wurde, drei Jahre in einem Lazarett verbrachte, »er war
einfach total zerschossen« (Hoyser), daß er die ihn ehrenamtlich pflegende Irene Barkel 1919 ehelichte; daß dieser Ehe der
Sohn Erhard entsproß, Herr Schweigert aber – »so morphiumsüchtig und abgemagert, daß er kaum noch ne Stelle fand, wo er sich
eine reinhauen konnte« (Hoyser) – 1923 siebenundzwanzigjährig verstarb, mit der Berufsbezeichnung Student, so mag mancher
auf die Idee kommen, diese ungemein damenhafte Frau Schweigert habe insgeheim den Wunsch gehegt, ihr Mann möge bei Langemarck
gefallen sein. Ihren Lebensunterhalt hat sie sich als Grundstücksmaklerin verdient.
Von 1933 an geht es mit dem Gruytenschen Geschäft aufwärts, zunächst stetig, ab 1935 steil, ab 1937 senkrecht; nach Aussagen
seiner ehemaligen Mitarbeiter und einiger Sachverständiger verdiente er sich am Westwall »doll und dusselig«, hatte aber auch
nach Aussagen von Hoyser schon ab 1935 die »besten erhältlichen Festungs- und Bunkerspezialisten für teures Geld eingekauft«,
lange bevor er sie »einsetzen konnte«. »Wir arbeiteten immer mit Krediten von einer Höhe, die mich heute noch schwindelig
macht.« Gruyten setzte einfach auf das, was er den »Maginot-Komplex« aller Staatsmänner nannte; »selbst wenn der Maginot-Mythos
längst zerstört sein wird, wirkt er (Gruyten-Zitat nach Hoyser) weiter und wird |86| immer weiterwirken, nur die Russen haben diesen Komplex nicht; weil ihre Grenze zu lang ist, können sie ihn sich gar nicht
leisten, aber ob zu ihrem Heil oder Unheil, das wird sich noch herausstellen. Hitler jedenfalls hat ihn, mag er auch den Bewegungskrieg
propagieren und praktizieren, er selbst hat den Bunker- und Festungskomplex, du wirst sehen« (Anfang 1940, geäußert vor der Eroberung Frankreichs und Dänemarks).
Jedenfalls: schon 1938 hatte die Gruytensche Firma den sechsfachen Umfang von 1936, wo sie den sechsfachen Umfang von 1932
gehabt hatte; 1940 hatte sie den zweifachen Umfang von 1938, und (Hoyser) »1943 hätte man schon gar keine Proportion mehr
feststellen können«.
Eine Eigenschaft des alten Gruyten wird von allen bestätigt, wenn auch mit zwei verschiedenen Vokabeln: die einen nennen ihn
»mutig«, die anderen »furchtlos«, eine gewisse Minderheit von etwa zwei, drei nennt ihn »größenwahnsinnig«. Spezialisten bescheinigen
Gruyten heute noch, er habe zweifellos die besten Bunker-Spezialisten frühzeitig an- und abgeworben, später auch rücksichtslos
französische Ingenieure und Techniker, die am Bau der Maginot-Linie beteiligt gewesen waren, beschäftigt, und er habe (ein
hochgestellter ehemaliger Rüstungsbeamter, der ebenfalls nicht genannt werden möchte) »genau gewußt: Sparsamkeit bei Löhnen
und Gehältern in inflationären Zeiten ist Unsinn«. Gruyten bezahlte gut. Er ist um die fragliche Zeit einundvierzig Jahre
alt. Maßanzüge aus »teurem, aber nie aufdringlich teurem Material« (Lotte Hoyser) haben aus einem »stattlichen Mann einen
stattlichen Herrn« gemacht; er schämte sich nicht einmal seines Neureichtums, äußerte sogar einem Mitarbeiter gegenüber (Werner
von Hoffgau, Architekt aus altem Geschlecht), »aller Reichtum war einmal neu, auch der Ihre, als Sie gerade reich wurden,
es noch nicht waren«. Gruyten weigerte sich, in dem zu dieser Zeit für wohlhabend |87| werdende Leute obligatorischen Stadtviertel eine Villa (er sprach es bis zu seinem Lebensende trotz vielfacher Belehrungen
»Filla« aus) zu bauen.
Es wäre unverantwortlich, Gruyten für einen simplen und plumpen Erfolgsmenschen zu halten; er hat u. a. eine Fähigkeit, die
nicht erlernbar und nicht vererbbar ist: er kennt sich mit
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