Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
hätte, nie, und für diese Idioten hat
ers dann ergreifen müssen, und sie haben ihn fallen lassen für diesen Stöz – es hat sogar in der Firma Leute gegeben, die
haben behauptet, sein eigener Vater habe im Einverständnis mit Gruyten |99| Wilhelm von der Unabkömmlichkeitsliste gestrichen, und es wurde da sogar vom Weib des Urias gemunkelt, aber ich konnte nicht
und hätte nicht gekonnt – man kann doch einen so treuen Menschen wie den Wilhelm nicht verraten, ich habs nicht mal sofort
gekonnt, als er tot war. Und nun der Alte. Ja, es hätte schon damals was werden können zwischen ihm und mir; was mich fasziniert
hat an ihm, war, wie aus diesem großen, knochigen Bauernjungen, der ein Proletengesicht hatte, ein großer, knochiger Herr
geworden war, ein großer Herr, kein Baumensch, kein Architekt – ein Stratege, wenn Sie mich fragen. Und das wars, was mich
außer seiner großen, mageren Knochigkeit an ihm faszinierte: diese strategische Begabung. Er hätte genausogut Bankier werden
können, ohne von Geld auch nur das geringste zu ›verstehen‹, wenn Sie wissen, was ich meine. Er hatte ne Europakarte im Büro
an der Wand hängen, Nadeln reingesteckt und hin und wieder ein Fähnchen, und es genügte ihm ein Blick – um den Kleinkram hat
er sich nicht gekümmert. Und natürlich hatte er einen sehr wirksamen Trick, den hat er Napoleon einfach abgeguckt – ich glaube,
das einzige Buch, das er gelesen hatte, war ne ziemlich blöde Napoleonbiographie –, der Trick war so simpel, und vielleicht
wars nicht einmal ein Trick, sondern sogar ein bißchen echte Sentimentalität drin. Er hatte ein bißchen großspurig 29 angefangen,
mit vierzig Arbeitern, Vorarbeitern und so weiter – und es ist ihm gelungen, sie trotz der Wirtschaftskrise alle durchzuschleppen,
keinen zu entlassen, und er scheute vor keinem Banktrick, vor keiner Wechselreiterei zurück, nahm sogar Kredite zu Wucherzinsen
–, und so hatte er 1933 ungefähr vierzig Mann, die nichts, einfach nichts auf ihn kommen ließen, sogar die Kommunisten darunter
nicht, und er ließ nichts auf sie kommen und half ihnen in allen, auch politischen Schwierigkeiten, und Sie können sich denken,
daß sie alle im Laufe der kommenden |100| Jahre ganz schön Karriere gemacht haben, wie Napoleons Sergeanten: er übergab ihnen ganze Projekte, und er kannte jeden, jeden
einzelnen von ihnen mit Namen, kannte die Namen ihrer Frauen und Kinder, fragte sie, wenn er sie traf, danach, mit allen Details
– und er wußte zum Beispiel, wenn eins der Kinder in der Schule sitzengeblieben war und so weiter. Und wenn er mal auf eine
Baustelle kam und merkte, daß ein Engpaß war, so griff er zur Schaufel oder zur Hacke, machte auch mal ne dringend notwendige
Lastwagenfahrt – und immer griff er dann zu, wo es wirklich notwendig war. Das Weitere können Sie sich denken. Und ein weiteres
Geheimnis: am Geld lag ihm nichts. Er brauchte es natürlich als Staffage: Kleider, Autos, Mobilität, hin und wieder mal ne
Gesellschaft, aber so wies reinkam, das große Geld, wurde es auch wieder investiert, und es wurden drüber hinaus sogar Schulden
gemacht. ›In der Kreide stehen, hoch in der Kreide, Lotte‹, sagte er mal zu mir, ›ist das einzig Wahre.‹ Und nun seine Frau,
ja, sie war es, die bemerkt hat, was ›in ihm steckte‹ – ja, aber was wirklich in ihm steckte und dabei herauskam, das hat sie einfach in Schrecken versetzt; sie wollte ihn groß machen, ein großes
Haus führen und so, aber sie wollte nicht mit dem Chef eines Generalstabs verheiratet sein. Wenn Sie mir nen komischen Ausdruck
gestatten wollen und ihn vielleicht sogar verstehen: er war der Abstrakte, und sie war die Realistin, obwohls umgekehrt erscheinen mag. Mein Gott, ich fands kriminell, was er gemacht
hatte: denen Bunker und Flugplätze und Hauptquartiere bauen, und wenn ich mal nach Holland oder Dänemark fahre, seh ich die
Bunker da am Strand stehen, die wir gebaut haben, und es kotzt mich an – und doch: es war ne Machtzeit, Zeit für Macht, und
er war ein Machtmensch, dem an der Macht selbst nichts lag, so wenig wie am Geld. Was ihn reizte, war das Spiel, ja, ein Spieler
war er – aber er war zu verwundbar: |101| sie hatten den Jungen, und der wollte nicht aus dem Dreck rausgehalten werden.«
Der Versuch, Lotte auf das zweite Interviewthema: Lenis Verhältnis zu diesem Erhard, zurückzuführen, mißlang zunächst. Wieder
eine Zigarette und eine
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