Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
fällig sind, ist hier vielleicht ein Glückwunsch angebracht für alle jene,
die krisenlos, krisenfrei oder auch nur krisenfest durchs Leben geschritten sind, nie eine T. vergossen haben, vom W. verschont
worden sind, nie hinter jemand hergeweint haben und sich vorschriftsmäßig jegliches L. verkniffen haben. Wohl dem, dessen
Bindehautsack nie in Funktion treten mußte, der trockenen Auges durch alle Fährnisse hindurchgekommen ist und seinen T.kanal
nie gebraucht hat. Wohl dem auch, der seinen Hirnstamm fest unter Kontrolle hat und in permanenter Selbstgewißheit des Seins
nie aus einem anderen Seinsgefühls als dem der Weisheit hat lachen oder lächeln müssen! Ein Hoch auf Buddha und Mona Lisa,
die durch und durch selbstgewiß in ihrem Sein waren.
Da auch Schmerz notwendigerweise fällig werden wird, soll hier nun nicht der gesamte Lexikonparagraph zitiert, er soll manipuliert und nur
in seinem entscheidenden Satz zitiert werden: »Der Grad der S.-Empfindlichkeit ist individuell verschieden, vor allem auch,
weil zum zunächst körperlichen S. noch das seelische S.-Erlebnis hinzutritt. Beides zusammen erzeugt den subjektiven S.«
Da Leni und alle Betroffenen nun nicht nur S. empfanden, auch litten , hier noch rasch den entscheidenden Lexikonsatz über das Leiden , damit wir unsere Ausrüstung komplettieren. Es (das L.) »wird um so stärker vom Menschen empfunden, je höhere Lebensgüter
getroffen werden und je empfindsamer seine Natur ist«. Da Lachen und Leiden nun den gleichen Anfangsbuchstaben haben, muß
das Lachen fürderhin als L.1 und das Leiden als L. 2 in abgekürzter Form zur Erklärung von Gemütszuständen dienen.
Eins ist mal sicher: bei allen Beteiligten der Familien Gruyten und Hoyser, einbezogen Marja van Doorn, die |116| beiden Familien gleichermaßen verbunden war, müssen ziemlich hohe Lebensgüter betroffen worden sein. Bei Leni trat etwas Alarmierendes
ein: sie magerte ab, erwarb sich bei Außenstehenden den Ruf einer Heulsuse; ihr prachtvolles Haar fiel nicht gerade aus, welkte
aber dahin, und nicht einmal Marjas phantastische Suppenkünste, die allerdings auch sie ständig mit T. im Auge auszuüben versuchte
– sie ließ ihre ganze reiche Suppenskala vor Leni aufmarschieren und besorgte die frischesten aller frischen Brötchen –, nichts
konnte Lenis Appetitlosigkeit abhelfen. Fotos aus jener Zeit, heimlich von einem Angestellten ihres Vaters aufgenommen und
später in Marjas Besitz übergegangen, zeigen Leni regelrecht mickrig, blaß vor S. und L. 2, vom W. und den T. völlig entkräftet,
ohne auch nur die Andeutung eines Ansatzes zu L.1. Ob Lotte Hoyser doch nicht so ganz recht gehabt hat, als sie Lenis Witwenschaft
abstritt, und Leni nicht in einer tieferen, der Lotte verborgenen Schicht doch Witwe und nicht nur platonisch war? Lenis subjektiver
S. muß jedenfalls ganz erheblich gewesen sein. Nicht geringer war er bei den anderen. Ihr Vater verfiel nun nicht mehr nur
ins Grübeln, Schwermut trat bei ihm auf, und er war (nach Auskunft aller, die mit ihm zu tun hatten) »nicht mehr bei der Sache«.
Da der alte Hoyser ebenso gebrochen war und auch Lotte (nach ihrer eigenen Auskunft) »längst nicht mehr die alte«, Frau Gruyten
ohnehin in ihrem Schlafzimmer, »hin und wieder ein paar Löffel Suppe und eine halbe Scheibe Toast zu sich nehmend« (M. v.
D.), dem Tod entgegendämmerte, bietet sich als Erklärung für die Tatsache, daß das Geschäft nicht nur weiterhin blühte, daß
es sich auch noch erweiterte, eine Erklärung des alten Hoyser an, die einigermaßen plausibel klingt: »Es war so gut aufgebaut
und angelegt, und die Wirtschaftsprüfer, Plan- und Baufachleute, die Hubert engagiert hatte, waren so loyal, |117| daß es einfach weiterlief, jedenfalls für das Jahr, wo Hubert komplett ausfiel und auch ich. Aber vor allem: jetzt kam die
Stunde der Veteranen – das waren inzwischen ein paar hundert, und sie nahmen den Laden in die Hand!«
Es wäre zu heikel gewesen, nun ausgerechnet Lotte Hoyser als Zeugin für eine ungeklärte Periode in des alten G.s Leben zu
nehmen; es muß leider auf ihre Prägnanz und ihre wundervolle Trockenheit verzichtet werden.
Nimmt man einen vergleichsweise modischen Ausdruck, so war sie nämlich im kommenden Jahr, das von April 1940 bis ungefähr
Juni 1941 gerechnet werden muß, seine »ständige Begleiterin«. Möglicherweise er auch ihr ständiger Begleiter, denn sie bedurften
beide
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