Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
des Trostes, den sie letzten Endes offenbar doch nicht fanden.
Sie reisten umher, die schwangere Witwe mit dem schwermütigen Mann, der die Akten über den Unglücksfall, der seinen Sohn und
seinen Neffen getroffen hatte, nicht las, sich von Lotte und Hoffgau nur kurz darüber berichten ließ; ein Mann, der hin und
wieder »Scheiß auf Deutschland« vor sich hin murmelte, vorgeblich von Bauplatz zu Bauplatz reiste, von Hotel zu Hotel, in
Wirklichkeit nicht einmal einen einzigen Blick irgendwo in Zeichnungen, Bücher, Akten oder auf Bauplätze warf. Er fährt im
Zug oder im Auto, fliegt auch hin und wieder, verhätschelt auf eine traurige Weise den fünfjährigen Werner Hoyser, der inzwischen
fünfunddreißig ist und eine schicke Eigentumswohnung bewohnt, modern eingerichtet ist, für Andy Warhol schwärmt und sich »in
den Hintern beißen« möchte, weil er nicht früh genug gekauft hat; er ist Pop-Fan, Sex-Fan und Inhaber eines Wettbüros; er
erinnert sich genau langer Spaziergänge an den Stränden von Scheveningen, Mers-les-Bains, Boulogne, daran, daß »Opa Gruyten«
Hände schüttelte, Lotte weinte |118| ; er erinnert sich an Baustellen, T-Träger, Arbeiter in »merkwürdigen Kleidern« (wahrscheinlich Häftlinge. Der Verf.). Hin
und wieder bleibt Gruyten, der Lotte nicht mehr von seiner Seite läßt, ein paar Wochen zu Hause, sitzt am Bett seiner Frau,
löst Leni ab und versucht verzweifelt, was auch Leni versucht: seiner Frau irgendwas Irisches vorzulesen, Märchen, Sagen,
Lieder – aber so vergeblich wie Leni; Frau Gruyten schüttelt müde den Kopf, lächelt. Der alte Hoyser, der seinen S. rascher
überstanden zu haben scheint und schon im September keine T. mehr vergießt, wieder »ins Geschäft geht«, bekommt hin und wieder
die überraschende Frage gestellt: »Ist der Laden immer noch nicht kaputt?« Nein. Es geht sogar noch weiter aufwärts: die Veteranen
stehen, sie halten dicht.
Ist dieser Gruyten mit einundvierzig schon verschlissen? Kann er sich mit dem Tod seines Sohnes nicht abfinden, wo ringsum
anderer Leute Söhne massenhaft sterben, ohne daß diese gebrochen werden? Fängt er an, Bücher zu lesen? Ja. Eins. Er kramt
ein Gebetbuch aus dem Jahr 1913 heraus, das er als Erstkommunikant geschenkt bekommen hat, und »sucht Trost in der Religion«
(»die er nie gehabt hat«, Hoyser sen.). Die einzige Folge dieser Lektüre ist, daß er Geld verschenkt, »haufenweise«, wie Hoyser
und seine Schwiegertochter Lotte gleichermaßen bezeugen, auch die van Doorn, die statt »haufenweise« »packenweise« sagt (»Auch
mir hat ers packenweise gegeben, und ich habe damals das Höfchen meiner Eltern und ein bißchen Land zurückgekauft«) – er geht
in Kirchen, hält es aber nie länger als »ein – zwei Minuten darin aus« (Lotte). Er »sieht aus wie siebzig, während seine Frau,
die gerade neununddreißig geworden ist, nur wie sechzig aussieht« (van Doorn). Er küßt seine Frau, küßt manchmal Leni, nie
Lotte.
|119| Setzt der Verfall ein? Sein ehemaliger Hausarzt, ein Dr. Windlen, achtzigjährig, längst über den Mythos vom Arztgeheimnis
erhaben, in seiner Altbauwohnung, wo noch Reste seiner Praxis, weiße Schränke, weiße Stühle zu sehen sind, ganz damit beschäftigt,
den modischen Medikamentenwahn als Götzendienst zu entlarven, behauptet, Gruyten sei »vollkommen, aber auch vollkommen gesund
gewesen; alles, aber auch alles bei ihm negativ – Leber, Herz, Nieren, Blut, Urin –, der Kerl rauchte ja auch kaum, vielleicht
eine Zigarre am Tag, und trank vielleicht innerhalb einer Woche eine Flasche Wein. Der krank? Nein, keine Spur – ich sage
Ihnen, der wußte, was war, und wußte, was er tat. Daß er manchmal wie siebzig ausgesehen haben soll, hat nichts zu besagen
– natürlich war er psychisch und moralisch total angeschlagen, aber organisch: nicht. Das einzige, was er aus der Bibel behalten
hat: ›Macht Euch Freunde mit dem ungerechten Mammon‹, und das schlägt aufs Gemüt.«
Widmet Leni ihren Verdauungsprodukten noch so viel Aufmerksamkeit? Wahrscheinlich nicht. Sie besucht Rahel häufiger, erzählt
sogar davon. »Merkwürdige Sachen«, wie Margret bezeugt. »Ich habe nichts geglaubt und bin dann mal mit ihr gefahren und sah,
daß es stimmte. Haruspica übte kein Amt mehr aus, nicht mal mehr ›Toilettenschwester‹ war sie. Und durfte nur in die Kirche,
wenn kein offizieller Chorgesang und Gottesdienst war. Nicht mal
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