Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
nannte. Er hatte sich falsche Ausweispapiere besorgt, gefälschte Aufträge mit gefälschten Unterschriften. (»An die
Formulare kam er ja jederzeit ran, und aus Unterschriften hat er sich nie viel gemacht, in der Krisenzeit zwischen 1929 und
33 hat er sogar manchmal auf Wechseln die Unterschrift seiner Frau gefälscht und gesagt: ›Die wird das schon verstehen, warum
sie jetzt schon damit aufregen.‹« Hoyser sen.)
Nun, das Spiel, die Sache dauerte immerhin acht oder neun Monate und ist in der gesamten Bauwelt als der »Tote-Seelen-Skandal«
bekannt. Dieser gewaltige Skandal bestand in einem »abstrakten Notizbuchspiel« (Lotte H.), in dem Unmengen bezahlten, sogar
bezogenen, doch via Schwarzmarkt zweckentfremdeten Zements, eine ganze Kompanie »bezahlter, aber nicht existierender Fremdarbeiter«
eine Rolle spielten, Architekten, Bauleiter, Vorarbeiter, sogar Kantinen, Köchinnen etc. lediglich in Gruytens Notizbuch existierten;
nicht einmal die |168| Abnahmeprotokolle fehlten, und es fehlten nicht die richtigen Unterschriften unter den Abnahmeprotokollen; Bankkonto, Kontoauszüge,
alles vorhanden, »eine durch und durch korrekte, oder besser gesagt korrekt wirkende Sache« (Dr. Scholsdorff später vor Gericht).
Dieser Scholsdorff war, obwohl damals erst einunddreißig Jahre alt, von allen, auch den schärfsten Musterungskommissionen,
ohne Tricks anzuwenden (»obwohl ich auch Tricks nicht gescheut hätte, aber ich brauchte sie nicht«), als untauglich bezeichnet
worden, obwohl kein organisches Leiden ihm anhaftete, lediglich, weil er so extrem zart, sensibel und nervös war, daß man
es nicht mit ihm riskieren wollte – und das bedeutet etwas, bedenkt man, daß noch im Jahre 1965 Musterungskommissionsmitglieder,
deutsche Ärzte, nicht ganz mageren jungen Deutschen am »liebsten eine Stalingrad-Kur« verschreiben würden. Um »sicherzugehen«,
hatte ein Studienfreund von Sch., der in einflußreicher Stellung »hockte«, diesen ans Finanzamt jener Kleinstadt dienstverpflichten
lassen, und erstaunlicherweise arbeitete Sch. sich dort in eine ihm fremde Materie so rasch und so gut ein, daß er schon nach
einem Jahr »nicht nur unabkömmlich, regelrecht unersetzlich war« (Finanzpräsident i. R. Dr. Kreipf, Sch.s Vorgesetzter, der
noch in einem Prostata-Kurort aufgetrieben werden konnte). Kreipf weiter: »Obwohl Philologe, konnte er nicht nur rechnen,
er war sogar in der Lage, komplizierte finanzielle und buchhalterische Vorgänge genau zu durchschauen, Transaktionen in ihrer
Fragwürdigkeit zu erkennen – und das entgegen seiner eigentlichen Begabung.« Diese »eigentliche Begabung« war die Slawistik,
Sch.s Leidenschaft bis auf den heutigen Tag, Spezialgebiet: Russische Literatur des 19. Jahrhunderts, und »obwohl mir verlockende
Angebote als Dolmetscher gemacht wurden, zog ich diese Beschäftigung |169| im Finanzamt vor – sollte ich etwa Unteroffiziers- oder auch Generalsdeutsch ins Russische übersetzen? Sollte ich diese mir
heilige Sache entwürdigen, in ein praktikables Aushorchvokabular verwandeln? Nie!« Scholsdorff stieß bei einer harmlosen Routineprüfung
auf die Unterlagen der Firma »Schlemm und Sohn«, fand nichts, aber auch nicht das geringste daran auszusetzen, und lediglich
aus Zufall fing er an, die Lohnlisten zu studieren, und da wurde er dann »stutzig, was sage ich: ich war empört, ich stieß
auf Namen, die mir nicht nur bekannt vorkamen, es waren Namen, mit denen ich immer noch lebe«. Nun muß man gerechterweise
hinzufügen, daß in Sch. möglicherweise doch ein paar Rachegedanken, nicht gegen G., sondern gegen das Baugewerbe, schlummerten;
er hatte in einer Baufirma als Lohnlistenführer angefangen, dorthin von seinem einflußreichen Freund empfohlen, da man aber
dann sein Zahlen- und Zifferngenie entdeckte, wurde er immer wieder weg- und hochgelobt, weil keine Baufirma so eigentlich
daran interessiert war, sich so genau, wie man es von einem Philologen nicht erwartet hätte, in die Bücher gucken zu lassen.
In seiner fast unbeschreiblichen Naivität hatte Sch. nämlich geglaubt, es käme den Firmen wirklich auf das an, was sie in
Wirklichkeit zu scheuen hatten: genauen Ein- und Überblick in bzw. über ihre Manipulationen. Man hatte einen weltfremden,
halbverrückten Philologen engagiert, den man »aus Mitleid am Fressen halten und vorm Kommiß retten wollte« (Herr Flacks von
der Baufirma gleichen Namens, die heute noch
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