Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
Verwirrung, als er aufgefordert wurde, den »Namenslieferanten« (»Stellen Sie
sich das vor, ›Namenslieferanten‹« – Scholsdorff) zu nennen, den auch Sch., obwohl er ihn genau wußte, nicht preisgab. Etwa
drei Stunden des zweiten Verhandlungstages vergingen mit einer Bildungsprüfung durch einen als Sachverständigen herbeizitierten
Slawisten aus Berlin, weil G. behauptet hatte, er habe die Namen aus Büchern – es wurde ihm nachgewiesen, daß er nicht ein
einziges russisches, »wenn überhaupt ein deutsches Buch, nicht einmal ›Mein Kampf‹ (Sch.) je gelesen hatte«, damit war »Henges
dran«. Nicht Gruyten gab ihn preis, Scholsdorff hatte ihn inzwischen ausfindig gemacht. »Er war doch tatsächlich im Range
eines Sonderführers für die Wehrmacht tätig und versuchte, russische Kriegsgefangene zur Preisgabe militärischer Geheimnisse
zu veranlassen. Ein Mann, der als Tchechov-Spezialist Chancen gehabt hätte, internationalen Ruhm zu erwerben.«
Henges, der sich tatsächlich freiwillig meldete, erschien vor Gericht in seiner Sonderführeruniform, die ihm »nicht so recht
saß und paßte, er trug sie erst vier Wochen« (Sch.). Ja, er gab zu, Gruyten, der ihn aufgesucht habe, eine Liste russischer
Namen geliefert zu haben. Was er verschwieg, war, daß er pro Namen 10 Mark Honorar kassiert hatte. Er hatte vorher mit Gruytens
Verteidiger über diesen Punkt konferiert und jenem klargemacht: »Das kann ich mir jetzt einfach nicht leisten – verstehen
Sie?« Daraufhin verzichteten Gruyten und sein Anwalt auf dieses peinliche Detail, das Henges aber Scholsdorff gegenüber, mit
dem er in einer gerichtsnahen Kneipe seinen |173| Streit fortsetzte, gestand. Es kam nämlich vor Gericht zu einer Kontroverse zwischen Scholsdorff und Henges, wobei Scholsdorff
Henges empört zurief: »Alle, alle hast du sie verraten, nur deinen Turgenjev und deinen Tchechov nicht.« Dieses »russische
Getue« wurde vom Staatsanwalt abgebrochen.
Die Moral dieses Zwischenabschnittes ergibt sich von selbst: Bauunternehmer, die gefälschte Lohnlisten führen, sollten literarisch
gebildet sein und – Finanzbeamte mit literarischer Bildung können sich durchaus als nützlich und staatsfördernd erweisen.
Es gab in diesem Prozeß nur einen Schuldigen: G. Er gestand alles, erschwerte seine Lage, weil er es ablehnte, als Motiv Gewinnsucht
zuzugeben; nach seinem Motiv gefragt, verweigerte er die Aussage, gefragt, ob er Sabotage im Sinn gehabt habe, verneinte er.
Leni, später mehrmals nach dem Motiv gefragt, murmelte etwas von »Rache« (Rache wofür? Der Verf.). G. entging nur knapp, erst
nach intensiver Intervention »sehr, sehr einflußreicher Freunde, die seine unbestrittenen Verdienste um die deutsche Kriegsbauwirtschaft
ins Feld führten« (nach H. sen.), der Todesstrafe, wurde zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt, sein gesamtes Vermögen wurde
konfisziert. Leni mußte zweimal vor Gericht, wurde aber wegen erwiesener Unschuld freigesprochen, ebenso Hoyser und Lotte
und alle Freunde und Mitarbeiter. Das einzige, was der Konfiszierung entging, war das Mietshaus, in dem Leni geboren worden
ist, und dies verdankt sie nur dem »ansonsten sehr scharfen Staatsanwalt«, der ihr »schweres Schicksal als Kriegerwitwe, ihre
erwiesene Unschuld« ins Feld führte und auf eine peinlich redselige Weise A.s Heldentaten noch einmal »aufwärmte« (Lotte H.);
sogar Lenis Betätigung in einer Nazimädchenorganisation auf ihr moralisches Pluskonto buchte. »Es wäre |174| unangemessen, hohes Gericht, diese todkranke Mutter (damit war Frau G. gemeint), die einen Sohn und einen Schwiegersohn verloren
hat, diese tapfere, junge deutsche Frau, deren makelloses Leben erwiesen ist, eines Vermögenswertes zu berauben, der ohnehin
nicht durch den Angeklagten, sondern durch seine Frau ins Familienvermögen eingebracht wurde.«
Frau Gruyten überlebte diesen Skandal nicht. Da sie nicht transportfähig war, wurde sie einige Male im Bett vernommen, und
»das langte ihr schon« (van Doorn), »und sie war gar nicht so unglücklich darüber, diese Erde zu verlassen – letzten Endes
doch ne feine, anständige, tapfere Frau. Sie hätte so gern Hubert noch Lebewohl gesagt, aber das ging nicht mehr, und wir
haben sie in aller Stille begraben. Natürlich kirchlich.«
Leni ist jetzt einundzwanzig geworden; natürlich hat sie kein Auto mehr, sie hält es für richtig, ihre Stellung in der Firma
aufzugeben,
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