Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
groß im Geschäft ist), und nun hatte »man da einen Burschen sitzen, der genauer
war als jeder Finanzbeamte. Das war uns zu gefährlich«.
Scholsdorff, der genau hätte sagen können, wieviel Quadratmeter Raskolnikovs Studentenbude groß war, wieviel Treppenstufen
Raskolnikov bis zum Hof hinunterzugehen |170| hatte – stieß nun plötzlich auf einen Arbeiter Raskolnikov, der irgendwo in Dänemark für die Fa. Schlemm und Sohn Beton mischte,
in deren Kantine aß. Dann aber, noch nicht mißtrauisch, aber schon »sehr erregt«, stieß er auf einen Svidrigailov, einen Rasumichin,
schließlich entdeckte er Tchitchikov, einen Ssobakevic – und dann ungefähr an dreiundzwanzigster Stelle stieß er auf einen
Gorbatchov, wurde blaß, zitterte aber vor Empörung, als er dann noch einen Puschkin, Gogol, einen Lermontov als schlecht bezahlten
Kriegssklaven entdeckte. Nicht einmal vor dem Namen Tolstoi hatte man haltgemacht. Wir wollen hier Klarheit schaffen: diesem
Dr. Scholsdorff lag nicht das geringste an irgendwas wie »Sauberkeit der Deutschen Kriegswirtschaft« oder so, solche Dinge
waren »ihm Wurscht und schnuppe«; seine finanztechnische Akribie war lediglich (Interpretation des Verf., der sich oft und
lange, noch kürzlich, mit Sch. unterhalten hat und wahrscheinlich noch oft unterhalten wird) eine Variation auf die Akribie,
mit der er das gesamte Personal der russischen Literatur des 19. Jh. kannte, liebte, interpretierte. »Ich entdeckte zum Beispiel,
daß in dieser Liste Tchechov und sein gesamtes Personal fehlten – auch Turgenjev, und ich hätte Ihnen damals schon sagen können,
wer diese Liste aufgestellt hatte: es konnte kein anderer als mein Studienkamerad Dr. Henges sein, verbummelt, verkommen –
aber ein leidenschaftlicher Turgenjevianer und ein geradezu verrückter Tchechovianer, obwohl diese beiden Autoren nicht viel
miteinander zu tun haben nach meiner Meinung und obwohl ich freimütig gestehen will, daß ich während meiner Studienzeit Tchechov
unterschätzt habe, gewaltig unterschätzt.« Sch. hat auch nachweislich nie, auch nicht in diesem Fall, Anzeige erstattet: »Das
war mir zu gefährlich, obwohl ich Unkorrektheit hasse und Schieber verachte, ich habe nie jemanden angezeigt, ich ließ die
Leute kommen, nahm sie |171| zwischen, forderte sie auf, ihre Erklärungen durch Nachträge zu korrigieren, nachzuzahlen – und weil ich in meiner Abteilung
die meisten Nachzahlungen aufzuweisen hatte, hatte ich eine gute Nummer bei Kreipf. Mehr nicht, aber anzeigen – ich wußte
doch, in welche Justizmaschine ich die Leute hineingeworfen hätte, und das wollte ich nicht einmal Schiebern und Unkorrekten
antun. Wenn Sie sich vorstellen, daß Leute zum Tode verurteilt wurden, weil sie ein paar Pullover geklaut hatten, nein – aber
diesmal gings mir durch. Es brannte durch: Lermontov als Sklave der deutschen Bauindustrie in Dänemark! Puschkin, Tolstoi,
Rasumichin und Tchitchikov – betonmischend und Graupensuppe essend. Gontcharov, gemeinsam mit seinem Oblomov mit der Schippe
in der Hand!«
Sch., der in Kürze im Range eines Oberregierungsrats pensioniert wird und immer noch in russische, sogar russische Gegenwartsliteratur
vertieft ist, hat sogar noch Gelegenheit gehabt, sich bei dem alten Gruyten zu entschuldigen und sich generös zu revanchieren,
indem er dessen Enkel, Lenis Sohn Lev, ein phantastisches Russisch beibrachte; und wenn Leni heute hin und wieder Blumen (die
sie immer noch liebt, obwohl sie fast siebenundzwanzig Jahre mit ihnen umging wie andere Leute mit Erbsen) in ihrem Zimmer
stehen hat, dann sind sie von Dr. Scholsdorff! Scholsdorff ist im Augenblick ganz in die Gedichte der Achmadullina vertieft.
»Natürlich habe ich also nicht Anzeige erstattet, ich habe erst einen Brief geschrieben, ungefähr folgenden Inhalts: ›Ich
muß Sie bitten, sofort bei mir vorstellig zu werden, denn die Dringlichkeit der Angelegenheit kann nicht genug betont werden.‹«
Er mahnte, einmal, zweimal, versuchte Henges ausfindig zu machen, vergebens – »und da auch ich Routineprüfungen unterlag,
wurden die Fahndungen bei mir gefunden und wurde sofort ein Ermittlungsverfahren gegen |172| ›Schlemm und Sohn‹ eingeleitet. Und dann – dann lief die brutale Walz ab.«
Sch. wurde Hauptbelastungszeuge in einem Prozeß, der nur zwei Tage dauerte, da der alte G. sich als ohne jede Einschränkung
schuldig bekannte; er blieb kühl, geriet nur in
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