Guardian Angelinos (03) – Sekunden der Angst
und ihre Augen funkelten wie jedes Mal, wenn Vivi etwas tat, was sie nicht tun sollte.
Warum machte ihn das bloß so an? Dieser Charakterzug wäre besser so was wie eine knallrote Warnflagge für ihn:
Lauf, Colt, lauf.
Und das war auch sein Plan, wenn alles gut lief.
»Gehen wir rein«, sagte sie.
»Klar. Brechen wir in ein ungesichertes, einsturzgefährdetes Gebäude ein. Warum eigentlich nicht?«
Sie lachte bloß und ließ ihn auf halbem Weg um das Haus herum los.
Manchmal kam er gegen ihre umwerfende Aura einfach nicht an. Zum Beispiel im Flugzeug, in dem begehbaren Kleiderschrank – wann würde er das nächste Mal dem ständigen Verlangen nachgeben, sie zu berühren? Hier in diesem heruntergekommenen, leer stehenden Haus, auf einem alten Holzboden, nackt … sich auf den Dielen wälzend … dabei, genau das zu tun, was sie nicht tun sollten?
Jederzeit konnte jemand vorbeikommen. Er fiel zurück, inhalierte den herben Duft von Kiefern und Torfmoos in der Nachmittagsluft und lauschte dem gelegentlichen Ruf eines Vogels. Und Vivi.
Ihr leiser Aufschrei ließ ihn jeden Gedanken an Sex vergessen. Er stürmte hinter das Haus, die rechte Hand an der Waffe in seinem Holster. Sie stand an der Hintertür, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Kein Aufbrechen nötig, großer Held. Die Tür steht sperrangelweit offen.« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Als wäre gerade jemand gegangen.«
»Oder noch drin.« Er trat vor sie und zog seine Waffe. »Du bleibst hier draußen.«
Vorsichtig bewegte er sich in eine dämmrige, modrig riechende Küche – kein Lebenszeichen, es sei denn, man zählte die Spinne mit, die über eine rissige, speckig abgegriffene Resopal-Arbeitsplatte krabbelte.
Das Haus, staubverkrustet und ebenso verlassen wie das Moor, an dem es lag, hatte höchstens hundert Quadratmeter Wohnfläche. Er konnte einen Wohnbereich im vorderen Teil des Hauses ausmachen, der leer war, bis auf einen rußgeschwärzten Kamin, in dem sich Asche türmte. Auf einer Seite zweigten ein weiterer Raum und ein Badezimmer ab, das, den Rohren nach zu urteilen, die aus der Wand ragten, früher auch als Waschraum gedient hatte. Das war’s. Möbel gab es nicht, nur abgeblätterte Farbe an den Wänden und einen fleckigen, abgenutzten Teppich.
»Hier ist niemand«, rief er aus dem Wohnzimmer, während er durch eine milchig trübe Glasscheibe auf das Moor hinausspähte. Die Vordertür war abgeschlossen und mit einem rostigen Schloss verriegelt, das nach einem kräftigen Ruck wahrscheinlich zerborsten wäre.
Er steuerte zum Schlafzimmer, öffnete die Tür, seine Waffe schussbereit im Anschlag, doch die Kammer war ebenso leer wie der Rest des Hauses, abgesehen von einem Haufen alter Maler-Abdeckplanen auf dem Fußboden.
»Merkwürdig, dass die Hintertür unverschlossen war«, rief er Vivi zu. Denn sein Instinkt sagte ihm etwas anderes. Im Haus roch es, als wäre es versiegelt gewesen, und nicht, als wäre frische Luft hindurchgeströmt.
Er machte kehrt und durchquerte das kurze Stück zur Küche, bemerkte die Flecken verblasster Farbe an der Wohnzimmerwand, dunkel verschattete Umrisse, wo früher Bilder hingen. In jeder Ecke Staub, tote Käfer und Dreck.
»Ein Wunder, dass sie dieses Haus nicht einfach abreißt«, sagte er. »Gute Erinnerungen können das nicht gewesen sein – Vivi?«
Sie antwortete nicht, und die Küche war leer.
»Vivi?«, rief er erneut und erstarrte mitten in der Bewegung, als er hörte, wie das Quad gestartet wurde. Was zum Teufel machte sie da? »Vivi!« Er lief zur Tür und erhaschte einen letzten Blick auf das vierrädrige Motorrad, das eben im Wald verschwand.
Verdammte Scheiße. Er stopfte seine Pistole zurück ins Holster, lauschte dem sich entfernenden Motorgeräusch und kochte innerlich vor Wut. Verdammt und zugenäht, diese Frau raubte ihm noch den letzten Nerv!
Vivi machte den Mund auf, um zu schreien, und sofort flog irgendein Insekt hinein. Sie spuckte wie wild und warf ihre Hände in die Dunkelheit.
Was zum Teufel war passiert? War sie gefallen oder was? Sie hatte draußen vor dem Haus auf dem morschen Holz der Terrasse gestanden, als Lang hineingegangen war, und das Brett unter ihren Füßen hatte einfach nachgegeben.
So war es doch gewesen, oder? Sie war gestolpert und abrupt tief gestürzt, in irgendein dunkles kaltes Loch, ein harter Aufprall, dann hatte sich das Brett – oder war es eine Falltür? – über ihr geschlossen. War sie gestoßen worden? Es war alles so
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