Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
zur Verfügung.
Auf gut Deutsch: Mach mir keine Scherereien, das ist das Beste für uns alle. Erst recht für deinen Mandanten, der hier eingelocht ist und es auch bleiben wird.
Ich hätte ihn am liebsten zum Teufel gejagt, aber ich hatte es eilig, zu Abdou zu kommen, und außerdem fühlte ich mich plötzlich sehr müde. So dankte ich ihm für seine Freundlichkeit und bat, in die Krankenstation begleitet zu werden.
Wir schüttelten uns nicht die Hand, und Inspektor Surano führte mich den Weg, den wir gekommen waren, wieder zurück und danach durch weitere, noch schäbigere Korridore, durch Stahltore und den allgegenwärtigen ranzigen Gestank, der jede Ritze auszufüllen schien.
Die Krankenstation war ein großer Saal mit einem Dutzend Betten, die fast alle belegt waren. Ich sah Abdou nicht und blickte Surano fragend an. Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Saalendes und ging mir dorthin voraus.
Abdou lag mit halb geschlossenen Augen in einem Bett, seine Arme waren angeschnallt. Er atmete durch den Mund.
Neben ihm saß ein fetter Wärter mit Schnurrbart, der gelangweilt rauchte.
Surano wollte sich wichtig machen: »Auf Krankenstation wird nicht geraucht, Abbaticchio! Wirf die Scheißkippe weg, und lass den Avvocato sitzen.«
So viel Höflichkeit hatte ich hier noch nie erlebt. Der Direktor musste Anweisung gegeben haben, mich mit Samthandschuhen anzufassen.
Der Wärter glotzte den Inspektor dumpf an. Er schien drauf und dran, etwas zu sagen, dann kam er wohl zu der Einsicht, dass er besser schwieg. Wortlos trat er seine Zigarette aus und entfernte sich, ohne auch nur Notiz von mir zu nehmen. Surano meinte, ich bräuchte mich nicht zu beeilen. Wenn ich fertig sei, würde er selbst mich wieder zum Ausgang begleiten. Dann zog auch er sich an die Tür des Krankensaals zurück.
Jetzt stand ich alleine an Abdous Bett; er schien meine Anwesenheit nicht zu bemerken.
Ich beugte mich ein wenig vor und versuchte, ihn anzusprechen, aber er reagierte nicht. Als ich gerade seinen Arm berühren wollte, begann er zu sprechen, fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Was willst du, Avvocato?«
Ich zuckte leicht zusammen und zog die Hand zurück.
»Was ist passiert, Abdou?«
»Du weißt, was passiert ist. Sonst wärst du nicht hier.«
Er hatte die Augen inzwischen geöffnet und starrte an die Decke. Ich setzte mich und im selben Moment wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, was ich zu ihm sagen sollte.
In Höhe des Betts sitzend, bemerkte ich die Abschürfungen an seinem Hals.
»Ist Abadschadsche heute Morgen gekommen?«
Er antwortete nicht und sah mich nicht an. Er schloss den Mund und presste die Kiefer zusammen. Auf den dritten Versuch gelang es ihm zu schlucken. Dann sah ich wie sich in seinem linken, inneren Augenwinkel wie in Zeitlupe eine Träne bildete, eine einzige, die größer wurde, sich schließlich löste und langsam über sein Gesicht rollte, bis sie am Rand der Kinnlade verschwand. Auch ich hatte Mühe zu schlucken.
Eine ganze Weile sprach keiner von uns beiden. Irgendwann wurde mir klar, dass ich ihm in diesem Moment nur eins sagen konnte.
»Sie hat dich verlassen und du denkst, dass jetzt wirklich alles aus ist. Ich weiß. Wahrscheinlich hast du sogar Recht.«
Abdous starr zur Decke gerichtete Augen drehten sich langsam zu mir. Auch sein Kopf ging mit, wenn auch nur minimal. Ich hatte seine Aufmerksamkeit. Als ich weitersprach, klang meine Stimme seltsam ruhig.
»Wie ich die Sache sehe, bleibt dir nur eine einzige, obendrein schwache Möglichkeit. Und die Entscheidung liegt ganz allein bei dir.«
Er sah mich jetzt an, und ich wusste, dass ich die Situation in der Hand hatte.
»Wenn du Lust hast, dich für diese Möglichkeit einzusetzen, um sie zu kämpfen, dann sag es mir.«
»Welche Möglichkeit?«
»Wir verzichten auf das Schnellverfahren. Wir ziehen vors Schwurgericht und versuchen, den Prozess zu gewinnen, sprich, einen Freispruch zu erwirken. Die Chancen stehen schlecht, und ich wiederhole noch einmal, was ich dir beim letzten Mal gesagt habe: Meiner Ansicht nach wärst du mit einem Schnellverfahren besser beraten. Aber die Entscheidung liegt bei dir. Wenn du dich gegen ein Schnellverfahren entscheidest, verteidige ich dich vor dem Schwurgericht.«
»Ich habe kein Geld.«
»Zum Teufel mit dem Geld. Wenn ich es schaffe, dich frei zu kriegen, was unwahrscheinlich ist, findest du schon einen Weg, mich zu bezahlen. Und wenn sie dich verurteilen, wirst du andere Probleme haben als die
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