Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Jeanshemd und darüber ein Sweatshirt.
Draußen begann es hell zu werden.
Ich war bereits an der Tür, als mir einfiel, dass ich vielleicht ein Buch mitnehmen und mich irgendwo zum Lesen hinsetzen konnte. In eine Anlage oder ein Café, wie ich es vor vielen Jahren immer getan hatte. Also ging ich im Geiste die Bücher durch, die – ungeordnet und provisorisch – in meiner Wohnung herumlagen.
Ein paar Sekunden lang dachte ich, dass sie genau so provisorisch wie ich in dieser Wohnung waren, aber dann nahm ich von dieser banalen und pathetischen Überlegung sofort wieder Abstand, hörte auf zu philosophieren und ging einfach zurück, um ein Buch auszusuchen.
Ich steckte Schnitzlers Traumnovelle ein, eine billige Ausgabe, die gut in die Tasche meiner Lederjacke passte. Dann steckte ich noch meine Zigaretten ein, ließ das Handy bewusst zu Hause, und ging los.
Ich wohnte in der Via Putignani, und wenn man aus dem Haus trat, konnte man rechts gleich das Teatro Petruzzelli sehen.
Von außen betrachtet, war es ein ganz normales Theater mit einer Kuppel und allem, was so dazugehört. Innen aber war es vor einigen Jahren bei einem nächtlichen Feuer völlig ausgebrannt. Seitdem wartete es auf seine Restaurierung und beherbergte unterdessen Katzen und Gespenster.
Während ich auf das Theater zuschritt, spürte ich die frische, saubere Morgenluft im Gesicht. Nur vereinzelt ein Auto, kein einziger Fußgänger.
Mir fiel ein, dass ich gegen Ende meines Studiums oft erst um diese Uhrzeit nach Hause gekommen war.
Damals spielte ich nachts Poker oder ging mit Mädchen aus. Oder ich hockte ganz einfach mit Freunden zusammen, trank, rauchte, redete.
Einmal hielt ich mich, nach einer dieser Nächte, um sechs Uhr früh in der Küche auf, weil ich noch rasch ein Glas Wasser trinken wollte, bevor ich ins Bett ging. Da kam mein Vater herein, um den Kaffee aufzusetzen.
»Warum bist du so früh aufgestanden?«
»Das bin ich nicht, Papa, ich komme gerade erst nach Hause.«
Er betrachtete mich einen Moment mit zusammengekniffenen Augen.
»Wie du so früh am Tag schon so blöde Witze machen kannst, will mir wirklich nicht in den Kopf«, hatte er gesagt und sich Schulter zuckend abgewandt.
Ich ging die Straße bis zum Corso Cavour hinunter und bog genau vor dem Theater in Richtung Meer ab. Zwei Häuserblocks weiter betrat ich eine Bar, frühstückte und zündete mir die erste Zigarette des Tages an.
Ich befand mich in der Gegend mit den schönsten Häusern von Bari. Hier hatte Rossana gewohnt, meine Freundin aus Uni-Zeiten.
Es war eine ziemlich stürmische Beziehung gewesen, vor allem durch meine Schuld. Bereits nach wenigen Monaten hatte ich nämlich das Gefühl gehabt, in meiner Freiheit eingeschränkt zu sein.
Also ließ ich die ein oder andere Verabredung platzen und kam zu den übrigen grundsätzlich zu spät. Wenn sie deshalb wütend war, hielt ich ihr vor, dies seien nicht die Dinge, die wirklich zählten. Sie meinte, eine gewisse Höflichkeit zähle sehr wohl, worauf ich ihr mit spitzfindigen Argumenten den Unterschied zwischen rein formeller und substanzieller Höflichkeit darlegte. Dass sie der formellen und ich der substanziellen anhing, versteht sich von selbst.
Nicht einmal im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, einfach nur ein ungehobelter Flegel zu sein. Im Gegenteil, ich schaffte es, sogar mir selbst einzureden, dass ich Recht hatte. Das wiederum brachte mich dazu, mich noch schlechter zu benehmen und gleich eine ganze Reihe heimlicher Liebschaften mit Mädchen von fragwürdiger Moral anzuzetteln.
Aber all dies wurde mir erst bewusst, als wir uns bereits getrennt hatten. Ich hatte mir unsere Geschichte mehrmals durch den Kopf gehen lassen und war zu der Einsicht gelangt, dass ich mich Rossana gegenüber als echter Idiot benommen hatte. Hätte sich die Gelegenheit dazu geboten, so hätte ich kein Problem gehabt, das vor ihr zuzugeben und mich zu entschuldigen.
Sieben oder acht Jahre später bot sich die Gelegenheit, als ich Rossana durch Zufall wieder traf. Sie arbeitete inzwischen in Bologna.
Wir trafen uns während der Weihnachtsferien bei Freunden wieder, und sie fragte mich, ob ich Lust hätte, am nächsten Tag eine Tasse Tee mit ihr zu trinken. Das hatte ich. Also trafen wir uns, tranken Tee und plauderten mindestens eine Stunde miteinander.
Sie hatte inzwischen eine kleine Tochter, war geschieden, führte ein eigenes Reisebüro, mit dem sie einen Haufen Geld verdiente, und sah obendrein blendend
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