Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
bekam er fast einen Herzinfarkt.«
Ich setzte ein törichtes Grinsen auf. Natürlich hätte ich diesen Professor Constantini kennen müssen.
»Wer ist Professor Constantini?«
»Der Herr aus dem zweiten Stock. Sagen Sie mal, wie lange wohnen Sie eigentlich schon in diesem Haus?«
Seit über einem Jahr, dachte ich.
»Seit knapp einem Jahr.«
»Kompliment, Sie müssen ein kontaktfreudiger Mensch sein! Was machen Sie – tagsüber schlafen und nachts in Overall, Umhang und Maske herumlaufen und die Stadt von Verbrechern säubern?«
Ich sagte ihr, ich sei Rechtsanwalt, worauf sie eine Grimasse schnitt und mir erzählte, dass auch sie – lang, lang ist’s her – um ein Haar die Advokatenlaufbahn eingeschlagen hätte. Sie hatte ihre Referendarzeit absolviert, alle Prüfungen abgelegt und sich bereits bei der Anwaltskammer eingeschrieben, aber dann hatte sie sich doch für einen anderen Beruf entschieden. Einen völlig anderen. Jetzt befasste sie sich mit Werbung und dergleichen. Aber irgendwie waren wir doch Kollegen, wie wir übereinstimmend fanden, und so konnten wir uns eigentlich auch duzen. Sie meinte, das sei ihr angenehmer.
»Ich hatte immer Probleme mit dem Sie. Es will mir einfach nicht über die Lippen, ich muss mich richtig dazu zwingen. Vor vielen Jahren hat meine Mutter versucht, mir beizubringen, dass sich ein anständiges Mädchen nicht mit Fremden duzt, aber daran habe ich schon immer gezweifelt. Ich meine, daran, dass ich ein anständiges Mädchen bin. Und du?«
»Du meinst, ob ich auch bezweifle, ein anständiges Mädchen zu sein? Na ja, ganz sicher bin ich mir da nicht.«
Sie lachte kurz auf, wieder mit diesem gurgelnden Unterton, bevor sie weitersprach.
»Du wirkst überhaupt etwas unsicher. Immer irgendwie... ich weiß nicht, ich komme nicht auf das richtige Wort. Als würdest du über Fragen brüten, deren Antworten dir wenig oder überhaupt nicht gefallen.«
Ich sah sie etwas verdattert an.
»Darf ich fragen, worauf sich diese Diagnose stützt? Ich meine, wir sehen uns heute zum zweiten Mal...«
» Du siehst mich heute zum zweiten Mal. Ich hab dich mindestens vier- oder fünfmal gesehen, seit ich hier eingezogen bin. Zweimal sind wir uns auf der Straße begegnet, aber du hast durch mich durchgeguckt, als wäre ich aus Glas. Nicht sehr schmeichelhaft für mich, aber du stecktest irgendwo in den Wolken. Ich hab erst gar nicht versucht, dich zu grüßen.«
Wir liefen schweigend weiter. Nach etwa zehn Metern, wandte sie sich erneut an mich.
»Hab ich was Falsches gesagt?«
»Nein. Ich hab nur über deine Bemerkung nachgedacht. Merkt man es mir denn so deutlich an?«
»Nein, tut man nicht. Aber ich hab ein Gespür für so etwas.«
Inzwischen waren wir vor unserer Haustür angekommen. Wir traten ein und gingen nebeneinander den kurzen Treppenabsatz bis zum Aufzug hoch. Es tat mir Leid, mich von ihr verabschieden zu müssen.
»Du hast mich neugierig gemacht. Was muss ich tun, um mich noch ein wenig ausführlicher beraten zu lassen?«
Sie überlegte ein paar Sekunden. Suchte nach einer Entscheidung.
»Bist du einer, der es missversteht, wenn ihn eine allein lebende Frau zum Abendessen einlädt?«
»Früher war ich Experte im Missverstehen, aber inzwischen nicht mehr, glaube ich wenigstens. Hoffe ich.«
»Gut. Wenn du es nicht missverstehst und heute Abend noch nichts vorhast, bist du zum Essen eingeladen.«
»Danke, ich komme gern. Wohnst du im sechsten oder siebten Stock?«
»Im siebten. Ich habe auch eine Terrasse. Schade, dass es abends noch zu kühl ist, sonst könnten wir draußen sitzen. Passt dir neun Uhr?«
»Ja. Was soll ich mitbringen?«
»Wein, wenn du welchen trinkst. Ich hab nämlich keinen da.«
»Gut. Dann bis heute Abend.«
»Fährst du nicht mit dem Aufzug?«
»Nein, nein, ich gehe zu Fuß.«
Sie sah mich einen Moment lang fragend an, dann nahm sie ihre Einkäufe und grüßte.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich an diesem Nachmittag im Büro gemacht habe, ich erinnere mich an nichts Bestimmtes, nur an das Gefühl von Leichtigkeit. Ein Gefühl, das ich lange nicht mehr gehabt hatte.
Ich fühlte mich wie an den Mainachmittagen der letzten Jahre im Gymnasium, wenn kaum einer noch in die Schule ging. Nur die paar, die sich abfragen lassen wollten, weil ihre Versetzung auf dem Spiel stand. Und natürlich der ein oder andere Streber.
Für uns anderen waren es die ersten Ferientage, und es waren die besten, weil sie in gewissem Sinne illegal waren. Streng
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