Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
meine Zukunft bestand: darin, die Anwaltskanzlei meines Vaters zu übernehmen... Nein, warte, so versteht man das nicht. Ich meine, dass das der Grund war, weiß ich heute. Damals war es mir nicht bewusst, nicht wirklich, ich habe es nur gespürt. Um es mit einem Bild auszudrücken: Die große Pause war zu Ende, aber ich war noch nicht bereit, ins Klassenzimmer zurückzugehen. Nicht in das Klassenzimmer, das mir bestimmt war.
Zu allem Überfluss fand ich, kaum zurückgekehrt, auch noch einen Freund. Ein netter Typ, acht Jahre älter als ich. Er war Notar von Beruf, wohlerzogen und gefiel meinen Eltern auf Anhieb. Eine richtig gute Partie. Bisher waren alle meine Freunde daheim schlecht angekommen – viel zu unzuverlässig, als dass meine Eltern ihnen ihre einzige Tochter anvertraut hätten, noch dazu fürs Leben. Weißt du, ich bin immer ein bisschen, wie soll ich sagen, lebhaft und unbeständig gewesen, und das gehörte sich nicht. Nicht, dass meine Eltern mir deshalb Vorwürfe gemacht hätten. Das heißt, meine Mutter hat schon mal was gesagt, aber ernsthafte Probleme habe ich deswegen nie bekommen. Dachte ich jedenfalls.
Wie auch immer, als Pierluigi auf den Plan trat, schien die Sache klar: Er war der richtige Mann. Bloß nicht wieder loslassen! Kurz nach unserer Verlobung habe ich angefangen zu trinken und zwar gehörig – vor allem abends, wenn wir ausgingen. Dadurch wurde ich sympathischer. Alle lachten über meine tollen Sprüche, und mein Verlobter war natürlich stolz, mich ausführen, oder besser, vorführen zu können.
Irgendwann haben wir beschlossen, zu heiraten, das heißt, er hat es beschlossen. Ich arbeitete bei meinem Vater und würde bald Rechtsanwältin sein, er war Notar und nicht gerade arm. Es gab also keinen Grund, ewig verlobt zu bleiben. Pierluigi sprach es aus, und ich pflichtete ihm bei.
Nach diesem Beschluss, begann ich auch schon vor dem Ausgehen zu trinken. Wenn er mich abholen kam und an der Haustür klingelte, sagte ich ihm durch die Sprechanlage, ich käme in fünf Minuten runter. Dann schüttete ich in mich rein, was mir unter die Finger kam – Wein, Bier, Schnaps, egal, was. Danach putzte ich mir die Zähne – wegen des Geruchs, besprühte mich mit Parfüm und ging hinunter. Wir trafen uns mit Freunden, und ich war immer bester Laune. Und trank. Vorab einen Aperitif, Wein oder Bier zum Essen, und nach dem Dessert noch ein Gläschen. Auch zwei oder drei. Am liebsten Brown Tequila, genau die Marke, die du gerade trinkst. Aber ich war nicht wählerisch. Ich trank, was es gab. Manchmal hatte ich das unangenehme Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Manchmal dachte ich, es wäre vielleicht besser, weniger zu trinken, aber meistens war ich felsenfest überzeugt, jederzeit aufhören zu können, wenn ich nur wollte. Gibst du mir noch eine Zigarette?«
Ich gab sie ihr und zündete mir selbst auch eine an. Sie nahm zwei tiefe Züge und ging, eine CD auflegen.
Making movies. Dire Straits.
Bevor sie weitersprach, zog sie noch ein paar Mal kräftig an ihrer Zigarette.
»Und so ging es lustig fort bis zum Tag unserer Hochzeit. In meinen wenigen hellen Momenten packte mich eine unbeschreibliche Verzweiflung. Ich wollte nicht heiraten, ich hatte mit diesem Herrn Notar nicht das Geringste gemein. Ich wollte auch nicht Rechtsanwältin werden, ich wollte nach San Francisco zurück oder sonst wohin, einfach weg. Aber ich saß in einem fahrenden Zug und war nicht in der Lage, die Notbremse zu ziehen. Zwei- oder dreimal dachte ich, ich würde es schaffen, meinen Eltern zu sagen, dass ich nicht heiraten wollte – die größte Angst hatte ich ja vor ihrer Reaktion, gar nicht vor der Pierluigis. Ich dachte, ich brächte es fertig zu sagen, tut mir Leid, aber besser jetzt, vor der Hochzeit, als sechs Monate oder ein Jahr danach.
Aber dann steckte meine Mutter den Kopf zur Tür rein und meinte, wir müssten noch rasch was erledigen, was weiß ich, das Festmenü aussuchen oder den Blumenschmuck für die Kirche. Und ich sagte »Ja, Mama«, leerte eines von diesen Mini-Schnapsfläschchen, putzte mir die Zähne – was ich sowieso den ganzen Tag tat – und ging Besorgungen machen. Ich weiß noch, wie ich einmal meine Mutter in irgendeinem Geschäft stehen ließ, um in der ersten Bar, die ich fand, ein Bier in mich hineinzuschütten. Danach war ich den ganzen Nachmittag lang besorgt, sie könne meine Fahne riechen.
Was glaubst du, in welchem Zustand ich in der Kirche erschien: sturzbetrunken. Ich
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