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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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haben wir beide uns ja auch erst heute kennen gelernt. Denkst du das?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht. Ich stelle mir nur gern vor, dass du diese Geschichte nicht jedem erzählst.«
    Mit dieser Bemerkung trat ich ausnahmsweise mal nicht ins Fettnäpfchen. Margherita nickte, wie um zu sagen: in Ordnung.
    Danach saßen wir noch bis tief in die Nacht zusammen und redeten.

2
    D ie Wochen bis zum Prozess vergingen schnell.
    Am zwölften Juni, gegen neun Uhr früh, war die Luft noch frisch. Auf dem Weg zum Gericht sah ich, dass das Digitalthermometer eines Computershops dreiundzwanzig Grad anzeigte. Ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit.
    Die Temperatur schien das einzig Positive an diesem Tag.
    In der vergangenen Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan. Um zwei Uhr versuchte ich es mit Schlaftabletten, aber sie zeigten keine Wirkung. Erst gegen halb fünf nickte ich vor Erschöpfung ein, wachte aber zwei Stunden später schon wieder auf. Wie in meinen schlimmsten Zeiten.
    Ich kehrte in eine Bar ein, um einen Kaffee zu trinken – einen echten – und eine Zigarette zu rauchen. Ich fühlte mich elend.
    Seit ein paar Tagen verfolgte mich der Gedanke, dass die Sache schlecht ausgehen würde – für mich, aber vor allem für Abdou.
    Der Prozess rückte näher, und ich war immer mehr überzeugt, dass es eine Riesendummheit gewesen war, mich von meinen Emotionen leiten zu lassen. Ich hatte mich benommen wie eine Figur aus einem Fernsehfilm. Eine Art Onkel Toms Hütte im Bari des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
    Nur Mut, schwarzer Freund, ich, der progressive, weiße Anwalt werde vor dem Schwurgericht deinen Freispruch erkämpfen. Leicht wird es nicht werden, aber am Ende wird die Gerechtigkeit siegen und deine Unschuld erwiesen sein.
    Unschuld? Auch in dieser Hinsicht hatten sich während der letzten Tage vor Prozessbeginn Zweifel in meinem Kopf eingenistet. Was wusste ich schon von Abdou? Wer, außer einer höchst fragwürdigen Intuition, sagte mir, dass mein Klient mit der Entführung und dem Tod des Kindes tatsächlich nichts zu tun hatte?
    Heute denke ich, dass ich vielleicht ein Alibi für die zu erwartende Niederlage suchte, aber damals war ich nicht klarsichtig genug, um das zu erkennen und drehte mich einfach im Kreis.
    Es ist nicht gut für einen Anwalt, dergleichen Bedenken vor so einem Prozess zu haben. Vor allem aber ist es nicht gut für seinen Mandanten. Der Anwalt riskiert, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Der Mandant, ins offene Messer zu laufen.
    In den vorausgegangen Tagen hatte ich zweimal mit Abdou gesprochen, um seine Verteidigung vorzubereiten. Ich suchte nach Aufhängern für einen Entlastungsbeweis, nach einem noch so fadenscheinigen Alibi – alles umsonst. Wir fanden nichts.
    Einen Vormittag lang durchstreifte ich sogar die Gegend, in der das Kind verschwunden und später tot aufgefunden worden war – ein pathetischer, fast schon filmreifer Einfall. Ich hoffte auf irgendeine hilfreiche Eingebung. Natürlich vergeblich.
    Und da kam schon der erste Tag des Prozesses, die Sitzung würde in Kürze eröffnet werden, und ich hatte nicht eine Zeugenaussage, nicht ein entlastendes Indiz, gar nichts.
    Der Staatsanwalt würde seine Zeugen vorführen, sein Beweismaterial präsentieren und uns aller Wahrscheinlichkeit nach total überrollen. Ich konnte nur hoffen, den einen oder anderen dieser Zeugen durch Nachfragen ins Schleudern zu bringen.
    Gelang mir das, so bedeutete das zwar noch lange keinen Freispruch, aber ich konnte wenigstens mein Match spielen.
    Gelang es mir nicht, was mehr als wahrscheinlich war, würde es überhaupt kein Match geben. Dann würde im Häftlingsregister neben Abdous Namen in blauen Stempellettern das Wort lebenslänglich stehen.
    Ich drückte mit dem Schuh die Zigarette aus, die ich bis auf den Filter aufgeraucht hatte, und setzte meinen Weg zum Schwurgericht fort.
    Vor dem Verhandlungssaal drängten sich Fernseh- und Presseleute. Eine Reporterin der »Gazzetta del Mezzogiorno« entdeckte mich und schoss auf mich zu. Worauf ich mich bei meiner Verteidigung stützen würde? Ob ich entlastende Zeugen hatte? Ob der Prozess meiner Ansicht nach lange dauern würde?
    Ich fühlte einen Brechreiz in mir hochsteigen, den ich jedoch ganz gut unter Kontrolle hatte. Glaube ich wenigstens. Was der Staatsanwalt hatte, waren keine Beweise, sondern Vermutungen – sagte ich. Und auch wenn sie plausibel klangen, so waren es doch nur Vermutungen. Das würden wir im Lauf der

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