Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
genommen hätten wir natürlich weiter zur Schule gehen müssen, aber wir taten es nicht. Es waren Tage, die wir dem Schulkalender abrangen und denen wir die Freiheit schenkten, jeder einzelne, Tag für Tag.
Vielleicht war die Luft an diesen Mainachmittagen auf der Schwelle zu den Mysterien des Sommers deshalb so spannungsgeladen, so prickelnd.
Irgendetwas würde passieren – musste passieren -, das spürten wir. Unsere Zeit spannte sich wie die Saite eines Bogens, der uns weiß Gott wohin schnellen würde.
Und genau so, wie in diesen Skizzen meiner Jugend, fühlte ich mich an jenem Nachmittag.
Gegen halb acht ging ich los, um ein paar Flaschen Wein zu besorgen. Da ich weder wusste, was wir essen würden, noch was Margherita gern trank, konnte ich nicht nur Rotwein nehmen, wie ich es normalerweise getan hätte. Ich mag keinen Weißwein.
Also wählte ich einen jungen Roten aus Manduria und einen kalifornischen Weißen aus dem Napa Valley, um aus meiner provinziellen Herkunft kein Hehl zu machen.
Da mir danach noch etwas Zeit blieb, schlenderte ich die Via Sparano hinunter.
Ich sah die Menschen an mir vorüberströmen und hatte irgendwie das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben.
In der Luft schwebte ein Hauch von süßer Melancholie oder etwas anderem, das ich nicht recht benennen konnte.
Um Viertel vor neun war ich zu Hause, duschte rasch und zog mich an. Helle Chino-Hose, Jeanshemd, weiche Schuhe aus dünnem Leder.
Dann packte ich mit einer Hand die beiden Flaschen am Hals, zog mit der andern die Wohnungstür hinter mir zu und sprang wie Alberto Sordi in »Ein Amerikaner in Rom« die Treppe hinauf. Dabei stolperte ich und hätte um ein Haar beide Flaschen zertrümmert. Ich musste wider Willen lachen und hatte, als ich zwei Etagen weiter oben bei Margherita klingelte, offensichtlich immer noch ein dümmliches Grinsen im Gesicht.
»Was ist passiert?«, fragte sie mich verwundert und kniff, während sie mir die Hand gab, ein wenig die Augen zusammen.
»Nichts, ich wäre nur fast die Treppe raufgefallen, und da ich geisteskrank bin, fand ich das lustig. Aber keine Sorge: Ich bin harmlos.«
Sie lachte, wieder auf diese glucksende Art.
In ihrer Wohnung roch es gut, nach neuen Möbeln, Sauberkeit und gutem Essen. Das Apartment war größer als meines, aber offensichtlich hatte man es umstrukturiert, denn es gab keine Diele, man gelangte direkt in eine Art Wohnzimmer, dessen breite Fensterfront auf eine Terrasse hinausging. Wenige Möbelstücke, nur eine Art niedriger Schrank, der japanisch wirkte, ein paar Regale aus hellem Holz, ein Glastisch mit Eisengestell und vier Metallstühle. Auf dem Boden ein großer Sisalteppich und zu beiden Seiten dicke, bunte Kerzen in unterschiedlicher Höhe, blaue Glasvasen mit Dekosteinen, eine schwarze Stereoanlage.
Die Regale waren voll mit Büchern und Gegenständen und vermittelten den Eindruck eines seit langem bewohnten Zimmers.
An den Wänden hingen zwei Drucke von Hopper, Cape Cod Evening und Gas . Das mit der ländlichen Tankstelle. Sie waren wunderschön und anrührend.
Ich sagte es ihr, und sie musterte mich einen Moment lang, wie um zu prüfen, ob ich mich nur aufspielen wollte. Dann nickte sie ernst und schwieg ein paar Sekunden.
»Isst du gern scharf?«
»Sehr gern.«
»Gut, dann gehe ich in die Küche und mache alles fertig. Schau dich inzwischen ruhig um; plaudern können wir beim Essen, in fünf Minuten ist es so weit. Ich mache den Rotwein auf, der passt heute Abend besser, außerdem würde der Weiße gar nicht so schnell kühl werden.«
Sie verschwand in der Küche, und ich begann die Bücher in den Regalen durchzusehen, wie ich es immer mache, wenn ich zum ersten Mal in einer fremden Wohnung bin.
Es gab viele Romane und Erzählbände. Amerikanische, französische, spanische, alle in den Originalsprachen.
Steinbeck, Hemingway, Faulkner, Carver, Bukowsky, Fante, Montalban, Lodge, Simenon, Kerouac.
Ich entdeckte eine uralte, abgegriffene Ausgabe von Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten und die Reisebücher eines amerikanischen Journalisten, Bill Bryson, der mir sehr gut gefiel und von dem ich aus irgendeinem Grund geglaubt hatte, ihn als Einziger zu kennen.
Des Weiteren gab es Bücher über Psychologie und über japanische Kampfsportarten und Ausstellungskataloge, vor allem über Fotografie.
Ich zog den Katalog einer Ausstellung von Robert Capa in Florenz aus dem Regal und blätterte ihn durch. Danach angelte ich mir Chatwin und dann
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