Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Verhandlung nachweisen, und dazu brauchte es im Moment keine entlastenden Zeugen.
Mittlerweile war ich von Journalisten umringt. Sie notierten sich, was ich sagte, während sich die Fernsehkameras kurz auf mein Gesicht richteten. Danach ließen sie mich zum Verhandlungssaal durch.
Dort waren bisher nur ein paar Carabinieri, der Protokollführer und der Gerichtsdiener. Ich setzte mich auf meinen Platz, die Verteidigerbank rechts vom Richter. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und hatte auch keine Lust, mich beschäftigt zu geben. Man hörte das Rauschen der Klimaanlage, die an diesem Tag nicht einmal notwendig gewesen wäre. Nach ein paar Minuten fanden sich vereinzelte Zuschauer ein.
Dann betrat ganz hinten eine Eskorte der blau uniformierten Vollzugsbeamten den Saal. Sie hatten Abdou in ihrer Mitte. Als ich ihn sah, fühlte ich mich ein bisschen wohler. Weniger allein, nicht mehr ganz so auf mich selbst gestellt.
Sie brachten ihn in die Gabbia , den für die Angeklagten vorgesehenen Käfig, und nahmen ihm die Handschellen ab. Ich ging sofort hin, um mit ihm zu sprechen. Heute glaube ich, dass ich das mehr für mich selbst als für ihn tat.
»Na, Abdou, wie geht’s?«
»Gut. Ich bin froh, dass der Prozess beginnt, dass ich nicht länger warten muss.«
»Wir müssen überlegen, ob wir deine Vernehmung beantragen. Die Entscheidung hängt vor allem von dir ab.«
»Was spricht dagegen?«
»Eine Vernehmung ist nicht ganz ohne Risiko. Wenn wir sie nicht beantragen, wird es wahrscheinlich der Staatsanwalt tun, aber wir müssen entscheiden, ob du die Fragen beantworten willst oder nicht. Wenn du möchtest, kannst du die Aussage verweigern; in diesem Fall würde man das Protokoll deines Verhörs durch den Staatsanwalt verlesen.«
»Nein. Ich möchte antworten.«
»In Ordnung. Dann hör mir jetzt gut zu. Der Vorsitzende Richter wird dir sagen, dass du während der Verhandlung jederzeit spontane Aussagen machen kannst. Du dankst ihm, machst aber keine Aussagen. Das ist wichtig, Abdou. Du darfst zu keinem Zeitpunkt irgendetwas sagen, ohne vorher mich gefragt zu haben, selbst wenn du Lust hast zu schreien. Wenn es etwas gibt, was du gerne loswerden möchtest, ruf mich, sag mir, worum es geht, und dann sage ich dir, ob und wann du reden darfst. Klar?«
»Klar.«
In diesem Augenblick ertönte die Glocke, die den Einzug des Gerichts ankündigte.
»Gut, Abodu, dann fangen wir an.«
Ich hatte mich umgedreht und war auf dem Weg zurück zu meiner Bank. Man konnte bereits die Schritte des nahenden Gerichts hören.
»Avvocato!«
Ich drehte mich um, wenige Meter vom Käfig entfernt. Der Vorsitzende war bereits eingetreten, die andern Richter folgten ihm auf dem Fuß.
»Ja?«
»Danke.«
Ich verharrte einen Moment reglos und wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Das Gericht nahm unterdessen hinter dem langen, leicht erhöhten Pult Platz.
Ich nickte und ging an meinen Platz zurück.
3
D ie Formalitäten zu Beginn der Verhandlung waren schnell erledigt. Der Vorsitzende Richter ordnete dem Protokollführer an, die Anklageschrift zu verlesen, und erteilte dann dem Staatsanwalt das Wort.
Cervellati erhob sich, zupfte sich die Robe mit den goldenen Tressen auf der Schulter zurecht, setzte seine Brille auf und las …
»Am 5. August 1999, um 19.50 Uhr, wurden die Carabinieri von Monopoli telefonisch über das Verschwinden des minderjährigen Rubino, Francesco, 9 Jahre alt, unterrichtet. Das Telefonat kam vom Großvater mütterlicherseits, Abbrescia, Domenico, der das Verschwinden des Jungen bemerkt hatte; bis wenige Minuten zuvor hatte der Junge vor dem Ferienhaus der Großeltern im Ortsteil Capitolo gespielt. Die Fahndung nach dem Kind, an der auch eine Hundestaffel beteiligt war, wurde unverzüglich eingeleitet und dauerte die ganze Nacht an. Im Rahmen einer ebenso rasch eingeleiteten Voruntersuchung wurden Nachbarn, Urlauber und Geschäftsleute aus der näheren Umgebung vernommen.
Die Fahndung wurde auch den ganzen nächsten Tag und die darauf folgende Nacht fortgeführt, blieb jedoch ergebnislos. Am 7. August erhielten die Carabinieri von Polignano einen anonymen Anruf, demzufolge sich die Leiche des Jungen in einem Brunnen befand, und zwar irgendwo zwischen der Landstraße 16 b und dem Ortsteil San Vito. Die augenblicklich aufgenommene Suche in besagter Gegend war leider erfolgreich und zwar insofern, als die Leiche des kleinen Francesco tatsächlich gefunden wurde. Spuren von Gewaltanwendung waren nicht
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