Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
die anwesenden Geschworenen noch gerne darauf hinweisen, dass in einem zivilisierten Land wie dem unseren der Tatverdächtige selbst keine Beweise zu erbringen hat. Lassen Sie mich das noch einmal unterstreichen: Der Angeklagte muss nichts beweisen. Es ist der Ankläger, der die Schuld des Angeklagten zu beweisen hat – eindeutig und zweifelsfrei. Ich bitte Sie, sich dies in jedem Moment des Prozesses zu vergegenwärtigen. Danke.«
Ich hatte improvisiert, aber als ich mich wieder hinsetzte, war ich beinahe zufrieden. Die Sache mit der Zurückverfolgung, von den angeblichen Beweisen über die Vermutungen hin zum simplen Verdacht, gefiel mir. Und während ich sprach, um die anderen – die Richter – zu überzeugen, hatte ich angefangen, mich selbst zu überzeugen. Das kann in meinem Beruf passieren. Muss passieren.
Vielleicht konnten wir es ja doch schaffen. Vielleicht war die Situation nicht ganz so aussichtslos, wie ich an diesem Morgen und in den vorhergehenden Tagen gedacht hatte.
Vielleicht.
Der Vorsitzende gab einen kurzen Beschluss zu Protokoll, in dem er die Beweisanträge zuließ und die Verhandlung auf den nächsten Morgen vertagte. Wie er uns, ohne es protokollieren zu lassen, nebenbei erklärte, hatten zwei der Schöffen an diesem Vormittag wichtige Termine in eigener Angelegenheit, die sie nicht hatten verlegen können, weshalb eine Vertagung nicht zu umgehen war.
Das Gericht verließ den Saal, die Vollzugsbeamten legten Abdou wieder die Handschellen an und führten ihn ab, die Zuschauer strömten nach draußen.
Ich packte meine Unterlagen ein, hängte mir die Robe über den Arm, nahm meine Aktentasche und verließ den Saal als Letzter.
4
D er erste Zeuge des Staatsanwalts war ein Hauptmann der Carabinieri, seines Zeichens Kommandant der mobilen Funkund Einsatztruppe von Monopoli – ein sympathischer, überhaupt nicht militärisch wirkender junger Mann um die siebenundzwanzig.
Der Vorsitzende bat ihn, die Formel zu sprechen, während der Protokollführer ihm ein abgegriffenes Blatt mit dem entsprechenden Text reichte.
»Ich bin mir der moralischen und juristischen Verantwortung bewusst, die ich mit meiner Aussage übernehme, und verpflichte mich, die volle Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen.«
»Geben Sie jetzt bitte Ihre vollständigen Personalien an.«
»Tenente Moroni, Alfredo, geboren am 12. September 1973 in Brescia, wohnhaft in der Kaserne der Carabinieri von Monopoli.«
»Bitte, Herr Staatsanwalt, Sie können mit der Befragung beginnen.«
Cervellati zog ein kleines Notizblatt aus seinen Akten und legte los.
»Gut, Tenente Moroni, dann erzählen Sie dem Gericht jetzt doch einmal, welche Rolle Sie bei dieser Sache gespielt haben, ich meine bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit der Entführung und Tötung des kleinen Rubino, Francesco.«
»Jawohl. Am 8. August 1999, gegen 19.50 Uhr, ging bei unserer Notrufzentrale, das heißt unter der Nummer 112, ein Anruf ein, mit dem das Verschwinden eines neunjährigen Jungen namens Rubino, Francesco gemeldet wurde. Anrufer war der Großvater des Jungen, bei dem der Kleine seine Sommerferien verbrachte. Die Eltern leben, wenn ich mich nicht irre, getrennt...«
»Sparen Sie sich überflüssige Details und bleiben Sie bei der Sache.«
Der Tenente schien drauf und dran, etwas zu erwidern. Diese Unterbrechung hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Aber er war ein Polizist, und deshalb sagte er nichts. Nach einer kurzen Pause setzte er seine Aussage fort.
»Unmittelbar nach Eingang des Notrufs wurde ich von unserem Call-Center informiert und schickte daraufhin eine Funkstreife zum Ferienhaus der Großeltern...«
»Das sich wo befand?«
»In Capitolo – ich wollte es eben sagen – ganz in der Nähe des Duna-Beach-Strandbades. Vor Ort stellte sich heraus, dass der Fall wirklich sehr ernst war. Wie die Großeltern berichteten, wurde der Junge schon seit zwei Stunden vermisst, was meine Männer mir per Funk meldeten. Ich habe daraufhin umgehend die Kollegen vom Polizeikommissariat informiert, damit sie sich an der Suche beteiligen konnten. Danach begab auch ich mich mit meiner gesamten Truppe vor Ort.«
»Wie wurde die Suche nach dem Jungen organisiert?«
»Außer uns und der Kripo war von Anfang an die örtliche Gemeindepolizei eingeschaltet. Und natürlich habe ich den Vorfall auch ins Hauptquartier nach Bari gemeldet. Dazu muss gesagt werden, dass ich unseren Chef in Monopoli vertrat, der krankgeschrieben war. Die Kollegen aus
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