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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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richtig.«
    »Danke. Ich habe keine weiteren Fragen.«
    Eigentlich war die ganze Fragerei überflüssig gewesen. Dass die Eltern des Kindes getrennt lebten oder geschieden waren, hatte mit dem Verschwinden des Jungen, mit dem Prozess und allem anderen wirklich nichts zu tun. Wahrscheinlich hatten der Staatsanwalt und der Nebenkläger sogar Recht, sich diesen Fragen zu widersetzen.
    Aber ich hatte wenig Spielraum, sehr wenig Spielraum. Und deshalb musste ich etwas tun, und wenn ich blind drauflosfragte. Vielleicht stieß ich ja doch auf irgendetwas, einen Hinweis, ein Signal, das mir den richtigen Weg wies, oder einen Weg, den ich wenigstens probehalber einschlagen konnte.
    Handbücher für Anwälte würden diese Vorgehensweise natürlich missbilligen.
    Stellt keine Fragen, deren Antworten ihr nicht absehen könnt. Fragt nie blind drauflos, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben. Kreuzverhöre müssen rigoros geplant werden, ihr dürft nichts dem Zufall oder der Improvisation überlassen, sonst begünstigt ihr womöglich die gegnerische Seite, et cetera et cetera.
    Die möchte ich, verdammt noch mal, in einem Prozess erleben, die Herren Handbuch-Verfasser. In einem echten Prozess mit dem Lärm, dem Dreck, dem Blut, der Scheiße, die dazugehören. Und dann möchte ich sehen, wie sie ihre Theorien anwenden.
    Man fragt nicht blind drauflos.
    Ich möchte sie erleben. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als blind draufloszugehen. Und das galt nicht nur für den Prozess.
     
    Der Verhandlungstag ging ganz mit Anhörungen drauf. Es wurden noch verschiedene andere Zeugen vernommen. Zunächst der Carabiniere, der den Anruf entgegengenommen hatte, aufgrund dessen man die Leiche des Jungen gefunden hatte. Er sagte, der Akzent des anonymen Anrufers sei seltsam gewesen. Der Staatsanwalt wollte es noch ein bisschen genauer wissen. Wahrscheinlich wollte er, dass der Zeuge sagte, der Akzent habe senegalesisch geklungen. Der Carabiniere kam ihm jedoch nicht entgegen. Für ihn hatte der Akzent lediglich seltsam geklungen, was alles und nichts heißen konnte.
    Danach waren die Carabinieri von der Hundestaffel an der Reihe, die praktisch noch einmal wiederholten, was der Tenente bereits gesagt hatte. Dann legte der Feuerwehrmann Zeugnis ab, der in den Brunnenschacht hinuntergeklettert war und die Leiche des Jungen geborgen hatte – ein trauriges und nutzloses Zeugnis.
    Zum Schluss hörten wir noch ein paar von den Badegästen an. Sie kannten Abdou vom Duna Beach, der ein oder andere hatte ihm schon etwas abgekauft, alle gaben an, dass der Senegalese sich mitunter ein wenig aufgehalten und mit ihnen geplaudert habe. Sie erinnerten sich, dass sie ihn manchmal auch mit dem Kind plaudern gesehen hatten. Ich fragte sie nach Abdous Verhalten und alle sagten, dass er immer nett gewesen sei und sich nie auffällig benommen habe. Mit dem Kind schien er regelrecht befreundet gewesen zu sein.
    Eigentlich hätten wir an diesem Tag auch noch den Gerichtsarzt anhören sollen, der die Autopsie vorgenommen hatte, aber er war nicht erschienen. Er hatte eine Entschuldigung geschickt und darum gebeten, an einem anderen Verhandlungstag vernommen zu werden. Der Vorsitzende freute sich darüber, ein wenig früher als vorgesehen nach Hause gehen zu können. Die nächste Sitzung wurde für den folgenden Montag anberaumt.
    Bis dahin war vermutlich die große Hitze ausgebrochen. Aber man konnte im Juni nicht immer ein solches Glück mit dem Wetter haben.

5
    S eit dem Abendessen bei Margherita waren etwa zwei Wochen vergangen. Wir hatten uns seither weder gehört noch gesehen. Mir war am darauf folgenden Morgen etwas Merkwürdiges passiert: Ich hatte mich schuldig gefühlt. Sara gegenüber, glaube ich.
    Das war wirklich merkwürdig, denn Sara hatte mich verlassen und lebte seit über anderthalb Jahren ihr eigenes Leben. Und doch hatte ich absurderweise zum ersten Mal das Gefühl, sie betrogen zu haben. Aus dem einzigen Grund, dass ich mich an diesem Abend in Margheritas Gesellschaft wohl gefühlt hatte.
    Als wir noch verheiratet gewesen waren und zusammenlebten, hatte ich eine Menge Mist gebaut. Danach war es mir meistens peinlich, manchmal empfand ich auch Selbstverachtung. Aber richtig schuldig, wie nach diesem Abend, hatte ich mich nie gefühlt.
    Ich habe oft über dieses Phänomen nachgedacht. Damals verstand ich es nicht. Heute vielleicht schon.
    Man kann sich auch mit der Trauer, ja, sogar mit der Verzweiflung anfreunden. Wenn wir unter dem Verlust

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