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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Verschwinden des Kindes vorbeigehen gesehen zu haben. Ich verbrachte den ganzen Samstag und den halben Sonntag damit, gerichtsmedizinische Bücher und Traktate zu studieren.
    Am Samstagmorgen ging ich auch in ein Schreibwarengeschäft in der Nähe meiner Wohnung, das Farbkopien machte. Als ich der Besitzerin sagte, was ich wollte, sah sie mich etwas misstrauisch an.
    Als ich den Laden verließ, war ich jedoch sehr zufrieden mit ihrer Arbeit und dem, was ich in der Hand hatte. Vielleicht waren meine Karten doch nicht so schlecht.
    Margherita war am Freitagnachmittag in meine Kanzlei gekommen und hatte im Besprechungsraum über drei Stunden lang allein Akten gewälzt. Irgendwann bat sie eine ziemlich verblüffte Maria Teresa sogar um ein paar Fotokopien und gegen neun kam sie in mein Büro, um sich zu verabschieden. Sie würde übers Wochenende wegfahren.
    Mit wem? Dachte ich nur eine Sekunde lang.
    Wir würden uns Montagmorgen um halb zehn im Schwurgericht treffen. Küsschen, sagte sie im Gehen. Küsschen, hätte ich ihr gern geantwortet. Stattdessen winkte ich nur kurz und sah ihr nach, um die erhobene Hand langsam wieder sinken zu lassen, als sie bereits aus der Tür war.
     
    Am Wochenende war es glücklicherweise noch angenehm kühl, so dass ich gut arbeiten konnte.
    Am Sonntagnachmittag gegen halb zwei hatte ich das Gefühl, die Endstation erreicht zu haben und aussteigen zu können. Warum nicht ein bisschen ans Meer gehen? Um diese Uhrzeit war die Stadt normalerweise wie ausgestorben und die Straßen frei, so dass ich mir aussuchen konnte, wohin ich wollte. Ich nahm einen Matchsack, packte ein Handtuch, eine Badehose und ein Buch ein und ging aus dem Haus.
    Die Stadt war tatsächlich wie ausgestorben. In wenigen Minuten hatte ich das Zentrum durchquert und fuhr an der Küste entlang, vorbei am alten Albergo delle Nazioni . Mein Mercedes glitt mit seinem beruhigenden Schnurren dahin und eh ich mich versah, war ich bereits auf der Schnellstraße. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, vielleicht zwanzig Kilometer weit zu fahren und in Cozze oder höchstens in Polignano anzuhalten. Doch unterwegs änderte ich meine Meinung, trat aufs Gaspedal und fuhr bis zur Ausfahrt Capitolo weiter.
    Es war weniger los, als ich gedacht hatte. Vor einem der Strandbäder fand ich mühelos einen Parkplatz. Wie ich beim Aussteigen merkte, war ich hier nicht mehr als einen Kilometer vom Duna Beach entfernt, wo der kleine Francesco verschwunden war.
    Ich erwarb ein Ticket, mit dem ich Parkplatz und Eintritt in einem bezahlte, zog meine Schuhe aus und stapfte durch den Sand. Es war ein seltsames Gefühl. Im Sommer vor einem Jahr hatte ich geglaubt, kurz vor dem Überschnappen zu sein. Ich hatte das blendende Sonnenlicht gehasst, die Strände, die Leute, die sich pudelwohl zu fühlen schienen, während ich überall fehl am Platz war.
    Jetzt kam ich mir vor wie ein Genesender. Ich betrachtete das Meer, den Sand, die Leute, die ich vor einem Jahr verabscheut hatte, und wunderte mich, dass es mir nichts ausmachte, sie zu betrachten. Ich empfand eine Art milder Gelassenheit und konnte mir kaum vorstellen, dass es mir vor weniger als einem Jahr so schlecht gegangen war.
    Es war ein seltsames, fast wehmütiges, aber schönes Gefühl.
    Ich zog mich in einer Gemeinschaftskabine um, mietete einen Liegestuhl und ließ ihn mir direkt am Wasser aufstellen. Das Meer war genau so, wie ich es am liebsten mochte. Ruhig, aber nicht glatt, mit leicht vom Wind gekräuselter Wasseroberfläche. Die Sonne schien warm, aber es war nicht heiß – die ideale Wärme, um mit geschlossenen Augen vor sich hinzudösen, das Buch im Sand neben dem Liegestuhl. Und genau das tat ich. Völlig dem seltsamen Wonnegefühl hingegeben, das mich überkommen hatte, lauschte ich den Stimmen des Strandes, die gedämpft an mein Ohr drangen.
    Irgendwann begann ich zu träumen, wie man in diesem eigenartigen Übergang von Wachen zu Schlaf oder von Schlaf zu Wachen träumt.
    Ich traf Sara auf der Straße, ganz in der Nähe unserer Wohnung, ich meine jener Wohnung, die einmal auch meine, jetzt aber nur noch ihre war. Sie kam mir entgegen, umarmte mich und küsste mich auf den Mund. Ich erwiderte ihre Umarmung, war aber verlegen. Im Grunde hatten wir uns – im Traum – seit vier Jahren weder gesehen noch gehört. Als ich ihr das sagte, starrte sie mich an und fragte, ob ich verrückt geworden sei, aber ihr Gesicht wirkte erschrocken, als wolle sie jeden Moment anfangen zu heulen. Ich

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